Neues Zentrum für seltene Knochenerkrankungen
Ein „Nationaler Aktionsplan“ soll die Expertise für seltene Erkrankungen in ganz Österreich bündeln. Das Vienna Bone and Growth Center, das demnächst in Wien startet, kümmert sich um Betroffene seltener Knochenerkrankungen.
Seltene Erkrankungen werden über die Häufigkeit ihres Auftretens in der Gesamtbevölkerung definiert. Eine Krankheit gilt laut EU-Definition dann als selten, wenn sie bei nicht mehr als fünf Personen pro 10.000 Einwohnern auftritt. Rund 30.000 Krankheiten sind weltweit bekannt, davon zählen etwa 8.000 zu den sogenannten seltenen Erkrankungen.
In Österreich leben rund 400.000 Menschen mit einer seltenen Erkrankung, das sind knapp fünf Prozent der Bevölkerung. Ein beträchtlicher Anteil, der allerdings alle Patientengruppen zusammenfasst. Dabei ist jede einzelne Krankheit so selten, dass oft erst nach Jahren eine richtige Diagnose gestellt wird. Ein langer Leidensweg für Betroffene und hohe Kosten für das Gesundheitssystem sind die Folge.
Dies soll der „Nationale Aktionsplan für seltene Erkrankungen“, der 2015 auf EU-Empfehlung erstellt wurde, künftig ändern. In speziellen Expertisezentren wird das Fachwissen gebündelt, vernetzt und nach außen sichtbar gemacht. Das herrschende Defizit in Bewusstsein und Wissen über seltene Erkrankungen – sowohl unter Medizinern, als auch in der Öffentlichkeit – soll mit einem umfassenden Maßnahmenpaket behoben werden.
Vienna Bone and Growth Center
„Je seltener eine Erkrankung ist, desto mehr muss man auf internationaler Ebene vernetzt sein“, macht Orthopäde Rudolf Ganger den Handlungsbedarf klar. Der Chirurg am Orthopädischen Spital Speising ist an der Schaffung eines neuen Expertisezentrums in Wien maßgeblich beteiligt. Das Vienna Bone and Growth Center bündelt einzelne Kompetenzen des AKH Wien, des Orthopädischen Spitals Speising und des Hanusch Krankenhauses. Das Fachgebiet, das durch das neue Zentrum abgedeckt wird, umfasst seltene Knochenerkrankungen, Störungen der Mineralisation und seltene Wachstumsstörungen.
"Wir wollen für die Patienten und ihre Angehörigen ein optimales Setting schaffen. Das Schlagwort ist hier Quality of life“, erklärt Rudolf Ganger, Chirurg am Orthopädischen Spital Speising.
"Wir wollen für die Patienten und ihre Angehörigen ein optimales Setting schaffen. Das Schlagwort ist hier Quality of life“, erklärt Ganger. „Was können wir tun, um die Lebensqualität für diese Patienten zu verbessern?“ Der Leiter der Kinderorthopädie macht den Anspruch an all den jungen Menschen mit seltenen Erkrankungen fest, die jedes Jahr in seiner Abteilung behandelt werden.
Hoher Behandlungsbedarf
„In den letzten fünf Jahren hatten wir 43 Patienten mit Osteogenesis imperfecta, der Glasknochenkrankheit. Die Bilanz von 274 Ambulanzbesuchen und 86 OPs zeigt, wie hoch der Behandlungsbedarf in dieser Patientengruppe ist“, zitiert Ganger die Krankenhausstatistik. Bei der seltenen Erkrankung hypophosphatämische Rachitis sieht die Bilanz ähnlich aus. Auf 40 Patienten kamen 379 Ambulanzbesuche und 73 Operationen in fünf Jahren.

Prim. Doz. Dr. Rudolf Ganger, PhD (links) und sein Mitarbeiter, Kinderorthopäde Dr. Gabriel Mindler, mit der jungen Franziska. Sie hat die Glasknochenkrankheit und wird von beiden Ärzten laufend medizinisch betreut.
Ein multidisziplinäres Team kümmert sich um die Betroffenen und deckt dabei alle notwendigen Bereiche ab, von der Vorsorge und Patientenschulung bis hin zu Chirurgie, Physiotherapie und Nachsorge. „Es sind sehr viele Berufsgruppen eingebunden, die zusammen ein Komplettpaket für Patienten liefern“, so Ganger. Die enge Zusammenarbeit mit den neuen Kinder-Reha-Zentren Kokon in Bad Erlach und Rohrbach-Berg bilden einen weiteren wichtigen Baustein in der Rundum-Betreuung.
Dass die Begegnung zwischen Arzt und Patient auf Augenhöhe stattfindet, ist Ganger dabei ein besonderes Anliegen. „Der mündige Patient von heute fordert mehr Mitspracherecht ein, dem wird das neue Zentrum in Zukunft vermehrt Rechnung tragen. Eine offene, gegenseitig wertschätzende Kommunikation mit Patienten und Angehörigen hat immer positive Einflüsse auf die Therapie.“ Hierbei will der Mediziner vor allem auch die Zusammenarbeit mit den jeweiligen Selbsthilfegruppen forcieren.
Geschützter Austausch von Daten
Ein wichtiger Punkt im neuen Zentrum ist auch der datengeschützte Austausch von Untersuchungsergebnissen aller involvierter Einrichtungen. „Dadurch können Diagnostik und Therapie optimal abgestimmt und Doppeluntersuchungen vermieden werden“, sagt der Orthopäde. Die Vernetzung auf internationaler Ebene erfolgt durch die Einbindung in die Europäischen Referenznetzwerke für seltene Krankheiten. Sie schaffen die Struktur für den Wissensaustausch und die Koordination der Versorgung innerhalb von Europa. „Neue OP-Techniken und Therapiemethoden können durch diese Vernetzung schnell im Krankenhausalltag umgesetzt werden“, ist Ganger überzeugt.
Wie groß im Bereich Expertise-Zentren der Nachholbedarf in Österreich ist, zeigt ein Vergleich mit Italien. Während es dort mehr als 200 zertifizierte Zentren für seltene Erkrankungen gibt, waren es in Österreich bis vor kurzem nur zwei: das EB-Haus – die Klinik für Schmetterlingskinder in Salzburg – und die pädiatrische Onkologie im St. Anna Kinderspital in Wien, die beide mit privaten Spenden initiiert wurden. Im Zuge des „Nationalen Aktionsplans“ wurden 2019 bereits fünf weitere Expertise-Zentren in Innsbruck, Salzburg, Linz und Graz geschaffen. Mit dem Vienna Bone and Growth Center werden 2020 sechs neue Zentren auf europäischer Ebene zertifiziert.
Text: Gertraud Gerst; Bilder: Pixabay, Orthopädisches Spital Speising