18 Medikamente pro Patient: Warum weniger oft mehr ist
Immer mehr Menschen nehmen immer mehr Medikamente gleichzeitig ein. Besonders ältere, multimorbide Patienten sind von Polypharmazie betroffen – mit potenziell fatalen Folgen. Das Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Ried setzt deshalb verstärkt auf interprofessionelle Zusammenarbeit an der Schnittstelle zwischen intra- und extramuralem Bereich.
Als Polypharmazie bezeichnet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die gleichzeitige Einnahme von mehr als fünf Medikamenten. In Österreich betrifft dies rund ein Fünftel aller über 60-Jährigen. Mit zunehmendem Lebensalter werden Krankheiten häufiger, entsprechend steigt die Zahl der verschriebenen Arzneimittel mit den Jahren weiter an. Dazu kommen rezeptfrei verkäufliche Medikamente (OTC) und Präparate wie zum Beispiel Nahrungsergänzungsmittel, die immer öfter auch online bezogen werden.
Doch allzu viel ist ungesund: Das gilt auch bei Arzneimitteln. Wer zehn unterschiedliche Wirkstoffe zu sich nimmt, trägt ein 90-prozentiges Risiko unerwünschter Wechselwirkungen. Nicht selten werden die dadurch verursachten Symptome erst recht wieder mit weiteren Medikamenten behandelt, die „Verordnungskaskade“ schwillt an. Paradoxerweise kann die Vielzahl von Medikamenten aber auch zu einer Unterversorgung führen, etwa wenn an Patienten keine Laxantien verabreicht werden, weil sie mit Opioiden behandelt werden.
Studien kommen zu dem Schluss, dass zehn Prozent aller stationären Spitalsaufnahmen von älteren internistischen Patienten wegen Polypharmazie beziehungsweise den dadurch ausgelösten Wechsel- bzw. Nebenwirkungen erfolgen. Steigende Lebenserwartung und demografische Entwicklung werden diese Problematik in den nächsten Jahren noch verschärfen.
„Die Folgen von Polypharmazie sind unerwünschte Wirkungen, geringere Therapieerfolge, verringerte Lebensqualität, höhere Hospitalisierungsrate und letztlich erhöhte Mortalität“, erklärt Elisabeth Kuc.
In vielen Therapieleitlinien wird Multimorbidität jedoch kaum berücksichtigt, obwohl die Folgen von Polypharmazie schwerwiegend sein können. „Unerwünschte Wirkungen, geringere Therapieerfolge, verringerte Lebensqualität, höhere Hospitalisierungsrate und letztlich erhöhte Mortalität“, erklärt Mag. Elisabeth Kuc, Leiterin der Apotheke im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Ried. Sie beschäftigt sich bereits seit über 20 Jahren mit dem optimalen Medikamenteneinsatz bei Patienten und dem Beitrag, den die Klinische Pharmazie dazu leisten kann.

Elisabeth Kuc, Leiterin der Apotheke im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Ried, im Gespräch mit einer Kollegin.
So viel wie nötig, so wenig wie möglich
Im Krankenhaus Ried wurde ein Modell entwickelt, das Klinische Pharmazeuten mit Spitalsmedizinern, Hausärzten und Pflegepersonen vernetzt. Das gemeinsame Ziel: Patientinnen und Patienten sollen so viele Medikamente wie nötig, jedoch so wenige wie möglich erhalten. Es geht in erster Linie um multimorbide Patienten, die im Durchschnitt rund 18 verschiedene Medikamente einnehmen, wie Apothekerin Kuc festgestellt hat.
Die Klinische Pharmazie kann in Ried von den betreuenden Spitalsärztinnen und -ärzten über das hauseigene EDV-System als Leistung angefordert werden. Die Pharmazeuten haben ihrerseits Zugang zu Diagnosen, relevanten Laborwerten (zum Beispiel Blutbild, Leber- und Nierenfunktion), Begleiterkrankungen und Allergien. Außerdem liefert ein Telefonat mit dem Hausarzt zusätzliche Informationen über die bisherige medikamentöse Therapie. Zugleich wird der Allgemeinmediziner in diesem Gespräch für mögliche Umstellungen sensibilisiert. „Das Feedback der Hausärzte ist bisher zu hundert Prozent positiv“, sagt Kuc.
Auch der Hausarzt muss informiert sein
Auf dieser Grundlage entwickeln die Pharmazeuten Adaptierungsvorschläge für Anwendung und Dosierung der Medikamente, immer mit Blick auf unerwünschte Wirkungen, Wechselwirkungen und Kontraindikationen. Diese Vorschläge besprechen sie mit den betreuenden Ärzten des Patienten im Krankenhaus. Ein pharmazeutischer Befund wird in der Patientenakte vermerkt und mit dem Arztbrief auch an den Hausarzt geschickt. „Die Kommunikation mit den niedergelassenen Ärzten ist enorm wichtig, damit Umstellungen in der Medikation auch nach der Entlassung der Patienten aus dem Spital weiter eingehalten werden“, betont die Rieder Chef-Pharmazeutin.
Wie wichtig eine gute Abstimmung der Arzneimittel ist, erläutert sie an einem eher einfachen Beispiel: Nicht jeder weiß, dass Aspirin am Morgen verabreicht werden muss und nicht zu Mittag. Denn wenn zuvor zum Beispiel ein Schmerzmittel wie Ibuprofen eingenommen wurde, blockiert dieses den gleichen Rezeptor und verhindert dadurch, dass Aspirin wirken kann. Solche Wechselwirkungen gibt es unzählige.
Formschnitt statt Wildwuchs
Die Arbeit des klinischen Pharmazeuten vergleicht Kuc mit dem Formschnitt eines Gärtners: So wie Pflanzen nach jahrelangem Wildwuchs brauche auch die Medikation gerade von älteren, oft mehrfach erkrankten Menschen immer wieder einmal eine sachkundige, korrigierende Anpassung, um bestmöglich zu wirken.
„Durch die pharmazeutische Intervention wird die Anzahl der Wirkstoffe verringert. Das reduziert die Arzneimittelkosten im Krankenhaus und im niedergelassenen Bereich. Vor allem aber erhöht es die Therapiesicherheit für die Patientinnen und Patienten und optimiert ihre Behandlung“, so das Resümee von Pharmazeutin Kuc über die berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit.
Text: Josef Haslinger; Bilder: KH BHS Ried © Hirnschrodt, www.depositphotos.de

Elisabeth Kuc, Mag.
Leiterin der Apotheke im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Ried