„Das Stoma ist eine Überlebenschance“
Ein künstlicher Blasen- oder Darmausgang ist in vielen Fällen eine lebensrettende Maßnahme – aber auch ein gesellschaftliches Stigma. Martina Signer hat vor fast 30 Jahren am Krankenhaus Barmherzige Schwestern Linz die Ambulanz für Kontinenz- und Stomaberatung aufgebaut.
Martina Signer ist eine Pionierin der Kontinenz- und Stomaberatung. Sie hat ab 1990 am Krankenhaus Barmherzige Schwestern Linz die Ambulanz für Kontinenz- und Stomaberatung aufgebaut und 1995/1996 die damals erstmalig in Österreich angebotene Sonderausbildung in diesem Bereich absolviert. Im Interview erzählt die diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester von der großen Bandbreite dieser Arbeit, den Fortschritten in der Stomatherapie und der noch stets aufrechten Vorreiterrolle ihrer Abteilung. Diese kann heute auf ein starkes interdisziplinäres Team zurückgreifen und umfasst mittlerweile sogar medizinisch fundierte Sexualberatung.
Frau Signer, in welchen Fällen kommt Kontinenz- und Stomaberatung zum Einsatz?
Martina Signer: Einerseits betrifft die Kontinenz- und Stomaberatung Menschen, die aufgrund einer Erkrankung oder Verletzung einen künstlichen Blasen- oder Darmausgang brauchen, ein so genanntes Stoma. Schon vor der Operation klären wir sie über alle damit verbundenen Details auf, danach versorgen wir sie und helfen ihnen, mit der Situation zurechtzukommen. Damit sie den Stomabeutel später selbstständig wechseln können, schulen wir sie darin. Das gelingt in ganz vielen Fällen. Bei motorischen oder kognitiven Defiziten ist es schwieriger.
Zum anderen gibt es eine große Gruppe von Kontinenzpatienten, die beispielsweise an Harnverlust oder Blasenentleerungsstörungen leiden; oder an gröberen Durchfalls-, Verstopfungs- und Stuhlentleerungsproblemen, die nichts mit Krebs oder Stoma zu tun haben. Die behandeln wir an unserem Beckenbodenzentrum konservativ, unter anderem mit Elektrostimulation, Biofeedback und Beckenbodentraining. Wer einen Blasenkatheter benötigt, dem bringen wir den Umgang damit bei.
Für viele Patientinnen und Patienten ist es auch wichtig zu wissen, dass sie zwei Tage lang sicher keinen Stuhl haben werden, damit sie bestimmte Dinge besser planen können. Ihnen geben wir eine Einschulung in der Irrigationstechnik, also der Darmspülung. Nicht zuletzt managen wir den Einsatz einer breiten Palette an Hilfsmitteln, seien es Kugeln fürs Beckenbodentraining, Anal- oder Vaginaltampons, Inkontinenzeinlagen aller Art. Wir zeigen Betroffenen, was für sie nützlich ist, verordnen das und lehren sie, es anzuwenden.
Nach welchen Operationen ist ein Stoma nötig?
Der häufigste Grund sind Krebserkrankungen des Darms oder der Blase. Ein Stoma kann aber auch wegen einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung wie Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn notwendig werden oder der Darm ist durch Ausstülpungen in der Darmwand geplatzt. Ebenso können Durchblutungsstörungen den Darm schwer schädigen. Sonstige Operationen an darm- oder blasennahen Stellen können zu Verletzungen führen. Und nicht selten betreffen Tumore der Frau, zum Beispiel Eierstockkrebs, auch den Darm.
Wie reagieren Menschen darauf, wenn sie plötzlich einen künstlichen Darmausgang oder Harnkatheter brauchen?
Viele empfinden das so, als ob es ihnen plötzlich den Boden unter den Füßen wegzieht. Vor allem das Kombipack Krebs und Stoma ist ja ein ganz heftiges. Noch dazu haben Stomaanlagen ein schlechtes Image und es ist schwer, den Patienten zu vermitteln, dass diese zu ihrem eigenen Schutz da sind. Damit die genähte Stelle gut heilen kann. Wegen der Milliarden Bakterien im Darm ist das hier nämlich komplett anders als bei Eingriffen in anderen Körperbereichen, wo man eher von sterilen Verhältnissen ausgehen kann. Auch bringt es manchmal einfach eine bessere Lebensqualität, etwa bei Mastdarmkrebs. Leider flehen die Menschen die Chirurgen oft förmlich an, den Schließmuskel – koste es, was es wolle – zu erhalten. Der Preis dafür kann aber hoch sein. Gerade hatte ich wieder so einen Fall auf der Station: Da ging bei einer 88-jährigen Dame die Nahtstelle auf. Sie musste erneut operiert werden und bekam dann ein nicht mehr rückgängig zu machendes Dünndarmstoma. Nun ist sie in der denkbar schlechtesten Lage.
„Viele empfinden das so, als ob es ihnen plötzlich den Boden unter den Füßen wegzieht.“
Wir sagen den Menschen zwar vorher ganz ehrlich, womit sie rechnen müssen. Doch wie sehr die Lebenqualität durch eine Inkontinenz mit ganz häufigen Stuhlgängen sinkt, können sich die wenigsten vorstellen. Manche bejahen das Stoma aber auch von vornherein, etwa Rollstuhlfahrer, Menschen mit Behinderungen oder einer schweren chronisch entzündlichen Darmerkrankung. Wenn das Darmmanagement sonst zu schwierig ist oder sie unter Hautschäden im Gesäßbereich leiden, erleichtert es ihnen das Leben nämlich tatsächlich sehr.
Was sind die größten Herausforderungen für Betroffene?
Die Körperbildveränderung ist sicherlich das Gravierendste. An sich hat die Schleimhaut, die an der Bauchdecke von innen nach außen gestülpt wird, keinerlei Schmerzzellen, die ist die gleiche wie im Mund. Da spürt die Patientin oder der Patient gar nichts. Aber wenn sich drumherum Hautrötungen oder sonstige Veränderungen bilden, tut das weh. Im Normalfall, wenn die Versorgung korrekt angelegt ist und gut abdichtet, spürt man das Stoma nicht. Allerdings nimmt man es auch nicht wahr, wenn es arbeitet. Man hat keinen Stuhl- oder Harndrang, sondern merkt nur, dass irgendwann der Beutel voll ist. Darm- und Harnstomapatienten hadern oft damit, dass sie die Kontrolle über ihre Ausscheidung verloren haben. Außerdem fürchten sie sich vor Gerüchen. Das ist aber, wenn das System gut funktioniert, ein geringeres Problem. Schwieriger ist, dass man auch die Gasbildung nicht beherrschen kann und die Blähungen meist ein blubberndes Geräusch machen. Das ist natürlich sozial ein einschränkender Aspekt.
Wie lange dauert es, bis Menschen mit einem Stoma ihre Situation in den Griff bekommen?
Den meisten gelingt es früher oder später, ihr Essverhalten anzupassen und ihren Körper besser kennenzulernen. Sie können dann ihre Ausscheidung recht gut einschätzen und ihre sozialen Aktivitäten dementsprechend ausrichten. Bis dahin begleiten wir sie mit vielen guten Tipps und Tricks. Wir haben allerdings immer auch eine Anzahl Patienten, die trauen sich gar nicht mehr außer Haus. Während andere sich eben überhaupt nicht beeinträchtigen lassen. Die gehen schwimmen, in die Sauna, fahren auf Urlaub. Manche sind wieder ganz normal berufstätig. Also alles ist möglich, aber es hängt stark vom Persönlichkeitstyp und vom Alter ab. Betagte Menschen trauen sich oft weniger zu. Im Prinzip ist die Lebensqualität zwar etwas eingeschränkt, kann aber doch ganz gut sein.
Eine Besonderheit Ihrer Abteilung ist die Sexualberatung.
Ja, eine Kollegin und ich sind auch ausgebildete Sexualberaterinnen und somit eine Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten, die durch ihre Krankheit oder die Behandlung Sexualfunktionsstörungen erleiden. Meines Wissens sind wir da das einzige Spital in Österreich, das dies anbietet. Zum Beispiel führt Strahlentherapie im Unterbauch meist zu einer Scheidenenge, und dieser lässt sich mit einem Scheidendehnungstraining entgegenwirken.
„Alles ist möglich, aber es hängt stark vom Persönlichkeitstyp und vom Alter ab.“
Oder es kann nach Prostataoperationen ein Schwellkörpertraining sinnvoll sein. Außerdem gibt es krankheitsbedingte Libidoeinschränkungen und damit verbundene Partnerschaftsprobleme. Generell klären wir die Menschen vor medizinischen Interventionen über mögliche Folgen auf, erklären ihnen die Gegenmaßnahmen und bringen sie ihnen bei. Auch bei unseren Stomapatienten fragen wir im Rahmen der ambulanten Nachsorge nach, wie es ihnen diesbezüglich geht und ob sie Unterstützung brauchen. Oft hören wir, wie gut dass Sie fragen, von selbst hätte ich mich das nicht anzusprechen getraut.
Ist ein Stoma etwas Endgültiges oder etwas Vorübergehendes?
Es kommt drauf an, wie weit eine Krankheit fortgeschritten ist oder ob es eine palliative Situation ist. Dann wird das Stoma oft in der Absicht gemacht, dass es bis zum Lebensende bleibt. Auch wenn der Schließmuskel oder die Blase entfernt werden müssen, kann es nicht mehr rückgängig gemacht werden. Aber es gibt auch viele Situationen, wo es nur eine vorübergehende Schutzmaßnahme ist.
Gibt es beim Umgang mit einem Stoma kulturelle Unterschiede?
Ja, die gibt es. Generell schämen sich zwar viele Menschen für ein Stoma, auch in unserem Kulturkreis. Aber für religiöse Muslime spielt die rituelle Reinheit eine wichtige Rolle, und das betrifft eben auch intime Dinge wie den Toilettengang, bei dem sie nur die linke Hand verwenden dürfen. Und bei der Stomaversorgung braucht man natürlich beide. Das kann ein Konflikt und für manche eine zusätzliche soziale Belastung sein. Tatsächlich kommt es vor, dass ein Stomaträger vom Besuch der Moschee ausgeschlossen wird, weil man ihn als unrein empfindet. Allerdings gibt es im Islam für kranke Menschen auch wieder Sonderregelungen.
Für unsere Arbeit ist es wesentlich, dass wir diese besonderen Bedürfnisse berücksichtigen. Muslimische Männer betreuen und schulen wir als Frauen aber trotzdem, auch wenn das einige heikel finden mögen. In unserem Spital gibt es nun einmal ausschließlich weibliche Kontinenz- und Stomaberaterinnen. Wir haben aber gar keine schlechten Erfahrungen damit. Vielleicht weil alle Menschen in so einer Situation des Ausgeliefertseins über jegliche Hilfe froh sind. Der Rest ist Feingefühl, kombiniert mit kulturellem Basiswissen.
Gibt es Schicksale, die Sie besonders berühren?
Natürlich. In unserem Arbeitsumfeld gibt es kaum locker-flockige Geschichten, sondern ganz viele tragische Schicksale. Etliche Menschen begleiten wir nicht nur über Wochen, sondern über Jahre. Gar nicht so wenige sind relativ jung, und wenn die Prognose schon bei der Diagnosestellung schlecht ist, können wir sie nur nach besten Kräften unterstützen, so lange es geht.
„Ähnlich wie Schwestern auf onkologischen oder Palliativstationen müssen auch wir lernen, trotz allem maximal empathisch und optimistisch mit den Menschen umzugehen.“
Ich denke etwa an einen Mann, der mit 28 Jahren ein weit fortgeschrittenes Rektumkarzinom hatte und dann noch geheiratet und ein Kind bekommen hat. Das konnte er nur mehr acht Monate lang erleben. So etwas geht einem auch als Profi nahe. In unserem Beruf ist es wichtig, privat für einen guten Ausgleich zu sorgen, damit wir das verdauen können. Ähnlich wie Schwestern auf onkologischen oder Palliativstationen müssen auch wir Kontinenz- und Stomaberaterinnen lernen, trotz allem maximal empathisch und optimistisch mit den Menschen umzugehen. Aber wir vergießen durchaus ein paar Tränen mit ihnen oder nehmen sie in den Arm. Weil es einfach traurig ist, wenn es ums Abschiednehmen geht.
Sie haben bereits 1990 am Ordensklinikum Linz die Abteilung für Kontinenz- und Stomaberatung aufgebaut. Was hat sich in Ihrem Bereich in dieser langen Zeitspanne verändert?
Durch die Forschung und Entwicklung hat sich die Bandbreite an Erzeugnissen vervielfacht. Wir müssen den Überblick behalten und können für jeden ein maßgeschneidertes Produkt finden. Unsere Patientinnen und Patienten lassen wir Verschiedenstes ausprobieren. Im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland haben sie in Österreich zum Glück sowohl hinsichtlich des Produkts als auch ihres Nachsorgers freie Wahl. Und nachdem wir als Schwestern quasi im Non-Profit-Bereich arbeiten, versuchen wir den in der Charta der Rechte der Stomaträger und -trägerinnen festgeschriebenen Grundsatz der Mitsprache und des Zugangs zum individuell Bestmöglichen eisern einzuhalten.
Ein anderer Aspekt sind die modernen Operationstechniken, heute kann viel mehr weggeschnitten werden. Leider führt eine gesteigerte Überlebensrate nicht immer zu guter Lebensqualität für die Betroffenen. Riesige Eingriffe bergen auch große Herausforderungen, etwa wenn bei einem Dünndarmstoma nur wenig Dünndarm übrig ist und man dadurch gar keine Nährstoffe mehr aufnehmen kann. Oder wenn so nah an den Schließmuskel heranoperiert wurde, dass das Stoma zwar rückverlegt werden kann, der Mensch dann aber bleibend inkontinent ist. In diesem Spannungsfeld leben wir in der Kontinenz- und Stomaberatung täglich.
Sie beenden im März kommenden Jahres Ihre Berufstätigkeit. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf Ihr Lebenswerk zurück?
Es ist eine Freude für mich, dass ich die Kontinenz- und Stomaberatung am Ordensklinikum so hervorragend aufgestellt zurücklassen kann. Ich habe sie ja zuerst 17 Jahre lang alleine betreut. Mittlerweile sind wir ein perfekt eingespieltes Team aus drei Kontinenz- und Stomaberaterinnen und einer für die Kinderbetreuung zuständigen Urotherapeutin. Dieses wiederum ist eingebettet in ein Pflegeexpertenteam aus Wundmanagerinnen, Diabetesbetreuerinnen, Entlassungsmanagement und Diätologinnen. Wir arbeiten eng mit den Chirurgen, Onkologen, Gynäkologen und Physiotherapeutinnen zusammen. Unsere Bereichsleiterin und Qualitätsmanagerin ist eine onkologische Fachschwester und Pflegewirtin mit hoher organisatorischer Kompentenz. Diese über die Jahre gewachsene Bündelung an Fachwissen und Kooperation findet sich in dieser Form nicht so schnell in anderen Spitälern. Sie ist wirklich eine Spezialität unseres Hauses und erlaubt es uns, das Maximale für jeden Patienten herauszuholen.
Interview: Uschi Sorz

Martina Signer,
Leiterin der Ambulanz für Kontinenz- und Stomaberatung am Krankenhaus Barmherzige Schwestern Linz
Martina Signer, Jahrgang 1962, ist diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester, Kontinenz- und Stomaberaterin sowie diplomierte Sexualberaterin und Sexualpädagogin. Sie leitet die Ambulanz für Kontinenz- und Stomaberatung am Krankenhaus Barmherzige Schwestern Linz, die sie selbst aufgebaut hat. Seit 25 Jahren arbeitet sie ehrenamtlich im Vorstand der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ).