Klinische Pharmazie: Ein Ansatz, der Leben rettet
Mehrfachmedikation gehört im medizinischen Bereich zum Alltag. Und mit ihr eine Häufung der berühmt-berüchtigten „unerwünschten Nebenwirkungen“, die im Extremfall fatale Folgen nach sich ziehen können. Wie lassen sich diese aber verhindern oder zumindest verringern?
Was haben ein hoher Cholesterinspiegel und eine Ohrenentzündung gemeinsam? Theoretisch nicht viel, könnte man meinen. Aber in der Praxis sieht es anders aus. Denn wird die Entzündung mit Antibiotika behandelt und auch der Cholesterinspiegel medikamentös gesenkt, können aufgrund der verwendeten Wirkstoffe ernsthafte Wechselwirkungen die Folge sein: Von anhaltenden Muskelschmerzen bis hin zur Rhabdomyolyse – dem Zerfall von Muskelfasern.
Medikamentöse Wechsel- und Nebenwirkungen sind besonders bei älteren und chronisch kranken Patientinnen und Patienten nachhaltig gefährlich. Unser Immunsystem ist im Alter bekanntlich viel angreifbarer und reagiert dementsprechend empfindlicher auf Medikation.
Älter und kränker
Dadurch, dass die Lebenserwartung steigt, wächst naturgemäß auch die Anzahl der Patient*innen mit Polymedikation, wenn also parallel mehrere Medikamente dauerhaft eingenommen werden müssen. Mag. Thomas Schweiger, Fachapotheker für Krankenhauspharmazie und Leiter der Apotheke im Barmherzigen Schwestern Krankenhaus Wien, erklärt dazu: „Beispielsweise nehmen viele der Dialysepatienten bis zu 20 verschiedene Medikamente – und da sind Nahrungsergänzungsmittel noch nicht mitgezählt!“ Gerade deswegen sei es wichtig, dass man die Medikamenteneinnahme der Patientinnen und Patienten an mehreren Stellen, wie in der Apotheke und im Krankenhaus, im Blick hat, so der Experte.
Aktuelle Relevanz hat hier unter anderem ein Interaktionscheck vor der Verabreichung des Covid-19-Medikamentes Paxlovid, das zahlreiche Medikamenten-Interaktionen verursacht, wie Thomas Schweiger erklärt: „Dieses Medikament hat das Potential für gewisse Neben- und Wechselwirkungen, vor allem wenn es um die Nierenfunktion geht. Da sollte man sich die anderen Medikamente, die der Patient einnimmt, sehr genau ansehen“, warnt Schweiger. Die Medikation muss vor Therapiestart daher meist geändert beziehungsweise angepasst werden.
Die Krankenhäuser der Vinzenz Gruppe bieten regelmäßige klinisch-pharmazeutische Visiten an, zudem können Ärztinnen und Ärzte individuell für Patienten ein pharmazeutisches Konsil, eine Medikamentenanalyse, anfordern.
"Viele Dialysepatienten nehmen bis zu 20 verschiedene Medikamente", sagt Apotheken-Leiter Thomas Schweiger.
Laut Österreichischer Interdisziplinär Hochaltrigen Studie (2019 bis 2022) nehmen heute fast die Hälfte der hochaltrigen Patient*innen mehr als fünf Medikamente parallel ein. Dadurch steigt das Risiko für unerwünschte Wechsel- und Nebenwirkungen enorm: Schon bei fünf verschiedenen Wirkstoffen können bis zu zehn Wechselwirkungen auftreten, Komplikationen wie Blutungen oder Nierenversagen die möglichen Folgen sein – im Extremfall enden sie letal. Bei bis zu 15 Prozent der Patientinnen und Patienten, die in Krankenhäuser aufgenommen werden, ist die Ursache der Symptome auf eine unerwünschte Arzneimittelwirkung zurückzuführen. Wirklich problematisch wird es, wenn die Wechselwirkungen nicht erkannt werden, sondern als neues Krankheitsbild falsch interpretiert werden, was wiederum zu falschen Behandlungen führt.
Projekte wie GEMED (multiprofessionelles Geriatrisches Medikationsmanagement) zeigen, dass ein interdisziplinärer Ansatz zu einer erhöhten Medikamentensicherheit der Patienten führt: Dieses Projekt der österreichischen Apothekerkammer basiert auf einer intensiven, aufeinander abgestimmten strukturierten Zusammenarbeit von Apothekerinnen und Apothekern, Pflegepersonal sowie Ärztinnen und Ärzten zur Reduktion der Polymedikation bei Seniorenheimbewohnern. Dabei zeigt sich: Wenn Ärzt*innen mit klinischen Pharmazeut*innen zusammenarbeiten, kann oft die Einnahme von mehreren Medikamenten reduziert werden; es wird besser erkannt, welche Medikation nicht mehr notwendig ist. Thomas Schweiger abschließend: „Klinische Pharmazie ist eine wirksame Maßnahme, um die Sicherheit der Patienten und Patientinnen zu erhöhen“.
Text: Resi Reiner; Fotos: Porträt Thomas Schweiger © BHS / Apotheke BHS © BHS

Thomas Schweiger, Mag.
Leiter der Apotheke im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Wien
Der gebürtige Wachauer übernahm 2019 die Apothekenleitung im Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien, nachdem er davor im Landesklinikum Horn als Stellvertretender Verantwortlicher Leiter der Spitalsapotheke fungierte. Schweigers Apothekenteam ist auch für das Göttlicher Heiland Krankenhaus Wien, das Herz-Jesu Krankenhaus Wien, das St. Josef Krankenhaus Wien sowie das Orthopädische Spital Speising fachlicher Ansprechpartner und versorgt die jeweiligen Medikamentendepots mit ausgewählten Arzneispezialitäten und selbstproduzierten Anfertigungen. Schweiger wuchs in Senftenberg bei Krems auf, sein großes Hobby ist die Musik. Er spielte in einer Band, sang im Chor – und absolvierte am Konservatorium für Kirchenmusik eine Gesangsausbildung.