Bakteriophagen klinisch anwenden: ein vielversprechender Weg mit Hürden
Bakteriophagen sind Viren, die ausschließlich Bakterien angreifen. In Zeiten zunehmender Antibiotikaresistenzen gelten sie darum als Hoffnungsträger bei der Bekämpfung schwer in den Griff zu bekommender bakterieller Infektionen. Mit der in Österreich erstmaligen erfolgreichen Behandlung eines Patienten mit einem inhalativen Bakteriophagen ist dem AKH Wien und der MedUni Wien vor Kurzem ein Meilenstein in der hochspezialisierten Bakteriophagentherapie gelungen. Warum eine Standardbehandlung trotzdem noch Zukunftsmusik ist, sich Anstrengungen in dieser Richtung jedoch lohnen, erklärt der Infektiologe Matthias Vossen von der Klinischen Abteilung für Infektionen und Tropenmedizin der Universitätsklinik für Innere Medizin I am AKH Wien.
INGO: Herr Dr. Vossen, was genau sind Bakteriophagen und warum sind sie so vielversprechend für die Behandlung bakterieller Infektionskrankheiten?
Matthias Vossen: Bakteriophagen, kurz Phagen, sind Viren, die Bakterienzellen als Wirt nutzen, um sich zu vermehren. Dabei gehen die Bakterien letztlich zugrunde. Phagen sind aber extrem wählerisch, darum sind sie ja auch unschädlich für den Organismus des Menschen. Jeder Phage ist lediglich auf eine ganz bestimmte Bakterienart spezialisiert, oft sogar nur auf eine Untergruppe dieser Art, alles andere verschmäht er. Im Fall einer Harnwegsentzündung zum Beispiel kann er dann eben nicht so wie ein Breitbandantibiotikum in allen möglicherweise auslösenden Keimen wirken, sondern vielleicht nur in einer einzelnen Unterart von Escheria coli. Oder – und das gibt es auch – es ist ein Phage, der ein etwas breiteres Spektrum hat und ähnlich wie ein Schmalspektrumantibiotikum auf alle Escheria-coli-Stämme abzielt, aber es sind noch Bakterien aus anderen Arten an der Entzündung beteiligt. So oder so ist die Krankheit damit nicht weg. Die Kunst ist es also, für genau die Bakterien, die eine Entzündung verursachen, den richtigen Phagen zu finden. Gelingt das, ist er tatsächlich außerordentlich effektiv.
Kann man Phagen nicht kombinieren?
Vossen: Doch, Phagen sind schon seit gut 100 Jahren bekannt und Phagencocktails, also Mischungen, gibt es durchaus. In machen östlichen Ländern, wie etwa Georgien, haben sie sogar eine gewisse Tradition. Es hat sich jedoch in rezenten Studien gezeigt, dass Phagencocktails meist nicht sehr effizient sind oder unter Umständen sogar kontraproduktiv sein können. Denn es ist schwer auszuschließen, dass in so einer Mischung ein so genannter nicht lytischer Phage dabei ist, also einer der vielleicht Toxine oder Resistenzgene mitbringt. Wir wollen aber einen, der das Bakterium tötet, und nicht einen, der es womöglich aufmunitioniert. Es sind also im Vorfeld sehr viele Prüfungsschritte erforderlich, damit das nicht passiert, und das funktioniert bei einem einzelnen Phagen wesentlich besser. Den können wir sehr exakt charakterisieren.
Sind die Suche nach dem richtigen Phagen und dessen Austestung die große Herausforderung bei dieser Therapie?
Vossen: Es gibt zwei große Herausforderungen. Zunächst einmal müssen wir an das krankheitsauslösende Bakterium herankommen. Das beginnt damit, Proben zu nehmen, die darin enthaltenen Bakterien im Labor zu vermehren und zu analysieren. Wenn eine Entzündung chronisch ist, also schon sehr lange immer wieder aufflammt, kann es vorkommen, dass man den Keim gar nicht mehr nachweisen kann. Dann hat er sich durch die vielen Versuche, ihn zu torpedieren, irgendwann dauerhaft auf einen Minimalmetabolismus umgestellt. Einen nur mehr ganz langsam wachsenden Keim in einer Kultur anzuzüchten ist aber unglaublich schwer. Und wenn ich den Keim nicht anzüchten kann, kann ich auch nicht den individuellen Phagen herausfiltern, der ihn töten würde. Das ist einer der größten Hemmschuhe auf der praktischen Seite.
Die andere große Herausforderung ist, dass es für eine derart maßgeschneiderte Behandlung noch kein Regulatorium gibt. Unser Zulassungswesen erfordert – natürlich aus gutem Grund – großangelegte, randomisierte, placebokontrollierte Studien. Für Fixfertigpräparate aus immer den gleichen Molekülen oder auch für Phagencocktails kann man das ohne Weiteres machen. Für einen hochspezialisierten Phagen, den man in einem individuellen Krankheitsgeschehen genau für den spezifischen Keim einer Person zum einmaligen Einsatz herausgefiltert hat, ist das schwer vorstellbar. Wie soll man hier den regulatorischen Rahmen festsetzen? Qualitätsstandards dafür zu entwerfen ist alles andere als einfach. Die Problematik ist der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), dem Europäischen Direktorat für die Qualität von Arzneimitteln (EDQM) und den nationalen für die Arzneimittelsicherheit verantwortlichen Instanzen auch bewusst. Es ist nicht so, dass man die Vorteile der hochspezialisierten Phagen nicht nutzen will. Nichtsdestotrotz sind wir hier von der einer Anwendung basierend auf umfassender Evidenz, so wie wir das von anderen Therapeutika gewohnt sind, noch relativ weit entfernt.
Sie sind Teil eines Teams des AKH Wien und der MedUni Wien, das kürzlich einen lungentransplantierten Patienten erfolgreich mit so einem hochspezifischen Phagen behandelt hat. Wie konnten Sie das realisieren?
Vossen: Rechtlich ist das in der Europäischen Union nur als Einzelfallbehandlung möglich, nachdem alle anderen Therapieversuche gescheitert sind. Wenn es keine andere Option mehr gibt, können Ärzt*innen auf ihre Verantwortung einen individuellen Heilversuch mit einem nicht zugelassenen Therapeutikum unternehmen. Dem vorab geht die Einschätzung, ob eine Bakteriophagentherapie im konkreten Fall überhaupt sinnvoll wäre. Wenn ja, wird die beste Vorgehensweise geplant. Bei unserem Patienten im AKH konnten wir den Keim – das war in diesem Fall Pseudomonas aeruginosa in der Lunge – selbst isolieren. Das frische Isolat haben wir dann an unseren Kooperationspartner, das Queen Astrid Military Hospital in Belgien, geschickt, das sehr viel Expertise in diesem Bereich und eine große Phagenbank besitzt. Darin haben die dortigen Kolleg*innen den passenden Phagen gesucht, indem sie mehrere potenziell geeignete Kandidaten im Verhältnis zu unserem Keim ausgetestet haben. Diesen haben sie dann für uns aufgereinigt. Außerdem haben sie untersucht, wie gut das Zusammenspiel dieses Phagen mit einem Antibiotikum funktioniert. Das ist nämlich ebenfalls ein ganz wichtiger Punkt.
Warum? Ist Bakteriophagentherapie nicht auch ein Hoffnungsträger bei antibiotikaresistenten Keimen? Also solchen, die man schwer in den Griff bekommt?
Vossen: Im Prinzip ja, aber komplett antibiotikaresistent dürfen sie auch wieder nicht sein. Die Phagen brauchen nämlich eine begleitende Schützenhilfe durch ein Antibiotikum. Funktionieren Antibiotika überhaupt nicht mehr, vermehrt sich der Keim derart rasant, dass er schneller wächst, als der Phage ihn töten kann. Es braucht also diese so genannte Phagen-Antibiotika-Synergie, das Zusammenspiel. Hier die punktgenaue Kombination aus richtigem Phagen und richtigem Antibiotikum für den individuellen Fall zu finden, ist auch wieder sehr komplex.
Können Sie den Fall Ihres Patienten ein wenig schildern?
Vossen: Unser Patient, der vor Längerem lungentransplantiert worden ist, hat seit mehreren Jahren an einer chronischen Kolonisation seiner Lunge mit Pseudomonas aeruginosa gelitten. Konservative Therapieversuche mit Antibiotika haben bei dem hochresistenten Keim nicht angeschlagen und die Lungenfunktion des Patienten hat sich zunehmend verschlechtert. Wir haben ihm dann an der Universitätsklinik für Thoraxchirurgie 28 Tage lang einen spezifischen Bakteriophagen inhalativ verabreicht. Zugleich haben wir die Phagenkonzentration in seiner Lunge und sein Blutbild genauestens überwacht, um eine sichere und effiziente Behandlung zu gewährleisten. Das Ganze hat ausgezeichnet funktioniert.
Wie geht es ihm jetzt?
Vossen: Es geht ihm erfreulich gut. Er ist beschwerdefrei und klinisch im Prinzip geheilt. Allerdings habe ich seinen Keim später noch in den Nasennebenhöhlen nachweisen können und wir wissen noch nicht, ob er vielleicht irgendwann aus diesem Versteck hervorkommen und wieder Probleme machen könnte. Aber auch das ist für uns eine ganz wichtige Erkenntnis. Wir bewegen uns hier wie gesagt nicht im evidenzbasierten Feld, sondern im Bereich der Erfahrungsmedizin. Jetzt geht es darum herauszufinden, ob die Erkrankung wiederkommt oder ob die Beendigung der lokalen Infektion in der Lunge bereits ausreicht, um den Ist-Zustand zu erhalten. Immer wiederkehrende Infekte haben auch mit einer nachhaltigen Störung des Epithels eines Organs zu tun. Unter Umständen nützt es bereits, diesen negativen Zyklus einmal zu durchbrechen und so die Barrierefunktion des Epithels wieder zu stärken. Ob das eine neuerliche bakterielle Fremdbesiedelung tatsächlich verhindert oder verringert, müssen wir nun abwarten. Das ist jedenfalls unsere Hoffnung. Denn obwohl wir den Keim an einer anderen Körperstelle noch nachweisen können, spricht die Klinik gerade dafür, dass der Patient von dem Phagen signifikant profitiert hat. Sorgfältige Nachsorge gehört natürlich auch dazu. Nicht zuletzt wollen wir daraus lernen, ob und wie wir anderen Menschen mit dieser Therapie helfen können.
Was hat das AKH motiviert, diesen Versuch zu wagen?
Vossen: Als universitäres Zentrum versorgen wir nicht wenige Patient*innen, die gerade deswegen zu uns kommen, weil sie woanders nicht behandelbar sind. Dementsprechend sehen wir es als unsere Verpflichtung an, ihnen auch alle Behandlungsmöglichkeiten zu bieten, die sinnvollerweise bei ihrer Erkrankung eingesetzt werden können. Schließlich würden wir ihnen andernfalls eine potenziell wirksame Therapie vorenthalten, die wir ihnen theoretisch ja qua Institution, qua Ausstattung und qua wissenschaftlichem Background zukommen lassen könnten. Darüber hinaus ist es eine zentrale Aufgabe der Infektiologie, Keime mit der schmalstmöglichen, für die Patient*innen schonendsten Therapie zu bekämpfen. Und hier sind Phagen ein großer weiterer Schritt. Sie könnten uns insbesondere auch bei der Bekämpfung von Erkrankungen helfen, bei denen die Bakterien einen Biofilm gebildet haben. Es gibt nur sehr wenige Antibiotika, die so einen Biofilm brechen können, und die sind nicht besonders gut verträglich. Einem Phagen gelingt das im Idealfall, weil er nicht auf die Stoffwechselaktivität der Bakterien angewiesen ist. Er braucht zwar ihren Proteinapparat, um sich zu vermehren, dies kann er aber dann, wenn er deren Zellen einmal gekapert hat, von alleine.
Nimmt das AKH angesichts des rezenten Behandlungserfolgs nun eine Vorreiterrolle in puncto Bakteriophagentherapie ein?
Vossen: Genau genommen war es unser vierter Versuch und der erste, wo wir so weit gekommen sind, dass wir am Ende einen einsatzbereiten Phagen hatten. Natürlich werden wir das nicht einschlafen lassen, im Gegenteil. Der Behandlungserfolg motiviert uns sehr, diese maßgeschneiderte Therapie in ausgesuchten Fällen stärker in die klinische Routine hereinzuholen. Dabei möchten wir in Österreich durchaus eine Vorreiterrolle einnehmen. Wir planen zum Beispiel, in den kommenden Jahren eine eigene Phagenbank aufzubauen und Klarheit über verschiedene klinische Fragestellungen zu gewinnen. Etwa welche Krankheiten man gut mit hochspezialisierten Phagen behandeln kann und wie man das jeweils am besten anpackt. Wie lange, wie oft am Tag und in welcher Verabreichungsform? Wovon hängt das ab? Es gibt auch so etwas wie eine Phagenkinetik, manche bleiben länger in den Zellen, andere sind sehr schnell wieder weg. Wie ist es, wenn ich das inhalativ mache, so wie bei unserem Lungenpatienten? Wie ist es auf der Haut, wo ich etwas auftragen kann, oder in einem Gelenk, in das ich nur über eine Injektion oder gar über eine systemische Verabreichung herankomme? Mit Letzterem ist die Phagen-Community noch ein bisschen vorsichtig, weil man keine Risikos eingehen möchte, aber an der Berliner Charité zum Beispiel wurde das schon gemacht. Auf jeden Fall brauchen wir in puncto hochspezialisierte Phagen noch viel mehr Erfahrungswerte und klinische Forschung. Aktuell agieren MedUni Wien und AKH in verschiedenen Fachbereichen vor allem anwendungsbezogen. Phagen-Grundlagenforschung wird vom Team von Prof. Weninger im Bereich der Neurodermitis durchgeführt.
Interview: Uschi Sorz, Foto: MedUni Wien/feelimage

Priv.-Doz. Dr. med. univ. Matthias Vossen, PhD
Facharzt für innere Medizin mit Additivfach Infektiologie und Tropenmedizin
Vossen ist Facharzt für innere Medizin mit Additivfach Infektiologie und Tropenmedizin und arbeitet seit 2010 an der Klinischen Abteilung für Infektionen und Tropenmedizin der Medizinischen Universität (MedUni) Wien, wo er die Station 16j der Klinischen Abteilung betreut und die interdisziplinäre Osteomyelitisambulanz und die Wundambulanz leitet. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen State-of-the-Art-Wundtherapien sowie die korrekte Dosierung von Antiinfektiva in speziellen Patient*innengruppen. 2019 hat er sich an der MedUni Wien habilitiert. Als Spezialist für Infektionskrankheiten betreibt außerdem eine Ordination in Tulln/NÖ.