"Demenz ist eine Familiendiagnose"
Helga Rohra erhielt mit 54 Jahren die Diagnose Lewy-Body-Demenz. Damit zählt die Münchnerin zu den Jungbetroffenen. Seither kämpft sie national wie international für die Rechte von Demenzbetroffenen.
Woher nehmen Sie die Motivation für Ihre Arbeit als Demenz-Aktivistin?
Helga Rohra: Aus meiner Biographie. Ich möchte Mut machen, zeigen: Du kannst in deiner Demenz noch etwas machen, etwas leisten. Aktivismus bedeutet, auch über das Schwere in der Krankheit zu sprechen, aber Mut zu machen. Bei jedem Auftritt muss das Publikum mit einer Mutmach-Botschaft weggehen. Und Aktivisten müssen bereit sein, etwas zu tun und zu kämpfen. Ich habe das Glück, dass ich Englisch noch genauso gut spreche wie Deutsch. Ich bin motiviert, weil ich aus der Politik komme. Und ich bin motiviert, weil ich als Dolmetscherin im Bereich Neurologie gearbeitet habe. Ich habe also alle Voraussetzungen, um aktiv zu sein. Ich halte bald meinen tausendsten Vortrag!
Wie wünschen Sie, dass mit Menschen mit Demenz umgegangen wird?
Das Erste ist die Sprache, sie ist ein wichtiges Medium. Wenn jemand sagt: Ach du Arme, du bist jetzt 31 und hast Demenz, welch ein Elend! Das brauchen Menschen nicht. Nach der Diagnose ist das erste die psychosoziale Begleitung, und zwar für die ganze Familie, denn Demenz ist eine Familiendiagnose. Dann kommen Programme zur Integration, denn wir müssen den Menschen auch etwas bieten. Bieten heißt, den Fokus darauflegen, was dieser Mensch noch kann, trotzdem, trotz Demenz. Die Menschen brauchen eine Aufgabe. Und wenn es Apfel schälen ist – je nachdem, was ich noch kann. Jeder Mensch ist einzigartig, jeder hat seine eigenen Fähigkeiten. Und da müssen sie anknüpfen.

Die Münchener Demenz-Aktivistin Helga Rohra lebt seit zehn Jahren mit Demenz. Bei vollem Saal gab sie am 6. September im Pflegehaus St. Katharina (1060, Millergasse 6-8) exklusiv Einblicke in ihren Alltag.
Was fordern Sie für Menschen mit Demenz?
Ich bin dankbar, dass ich zu Kongressen eingeladen werde. Aber ich will dann Kooperationspartner, die uns einbinden, mit denen wir gemeinsam Projekte machen für uns. Es gibt die Hochintellektuellen in der Demenz und es gibt die Schwächeren. Aber sagen wir, wir entwerfen neue Wohnformen mit Demenz. Ja, dann hole ich mir mal den gewesenen Gärtner, den Architekten, den Psychologen, den Musiker, den Maler. Die sind ja alle da! Nein. Es wird niemand geholt. Wieso? Die anderen wissen es ja besser. Und das ist auch Integration. Mit uns zu sein, weil es beiden zugutekommt. Die Gesellschaft muss die Menschen miteinbeziehen, wenn sie es wollen. Weil können tun sehr viele. Man muss sie da abholen, wo sie ihre Fähigkeiten hatten.
„Ich vergleiche ein Leben mit Demenz mit Leistungssport. Ihr Leben wird umgekrempelt, radikal.“
Wie meistern Sie die Herausforderungen im Alltag?
Ich vergleiche ein Leben mit Demenz mit Leistungssport. Ihr Leben wird umgekrempelt, radikal. Sie müssen sich anders ernähren, müssen sich bewegen, müssen in die Natur, sich die Kräfte holen. Nicht Musik, nicht Apps, nicht diese ganzen elektronischen Spielsachen! Mein Tag ist sehr strukturiert, dann fühle ich mich wie früher. Ich lese Zeitung und markiere die wichtigen Sätze, die schreibe ich mit der Hand ab, denn am PC kann ich nicht mehr arbeiten. Nach fünf Tagen möchte ich, dass ein Freund mir Fragen stellt über das, was ich abgeschrieben habe. Damit trainiere ich mein Gedächtnis, das Schreiben und die Ausdrücke. Und ich möchte informiert sein, denn das Leben läuft weiter. Außerdem habe ich ein Team, das mich unterstützt. Meine Sprachtherapeutin, die Ergotherapeutin und Kunsttherapeutin, den Hausarzt, den Neurologen und den Professor in der Klinik – wegen den News aus der Forschung!
Wenn Sie Ausfälle bemerken, wenn Sie merken, es geht jetzt etwas nicht, was früher möglich war – wie fühlen Sie sich da?
Der Moment, wo du realisierst, dass es anders ist, ist es schlimmer, als wenn du in der Demenz so weit fortgeschritten bist, dass du es gar nicht merkst. Ich spreche jetzt aus der Erfahrung, weil ich gerne, wenn ich unterwegs bin, in den Heimen auf der Demenzstation übernachte. Und dann mit den Leuten, mit meinen Freunden, frühstücke. Wenn ich nun merke, dass ich etwas nicht mehr kann. Dann denke ich, schau mal, jetzt ist es so weit. Verliere einen Gedanken, eine kleine Träne, aber im nächsten Moment denke und sage ich – lieber Gott, ich danke dir, was ich noch alles kann. Das ist das Wichtigste. Und das hält mich. Weil es ist ja jeder Tag anders. Ich plane nicht. Ich weiß nicht, was Weihnachten ist. Aber jetzt ist es Spitze! Und im Oktober gehe ich zur Cher in die Olympia-Halle ins Konzert. Ich lebe ja auch noch!
Was ist Ihre Botschaft für Ärzte und Ärztinnen, die mit Menschen mit Demenz arbeiten?
In den Selbsthilfegruppen, international, da sehe ich tausende von Menschen mit Demenz. Wenn dann ein Doktor kommt und sagt, ich habe noch nie erlebt, dass jemand so sprechen kann. Dann sage ich – „Herr Doktor, mit was für Patienten hatten Sie zu tun bis jetzt?“ Dann lade ich den Doktor ein zur nächsten Konferenz. Und ich sag dann das Datum, weil ich habe das ja aufgeschrieben. „Da werden Sie Menschen treffen aus der ganzen Welt, die genauso sprechen wie ich. Und es gibt Methoden, um das zu schaffen. Das ist ein Weg!“ Ich kann nicht sagen, ich habe die Diagnose vor 10 Jahren bekommen und jetzt sitze ich noch immer da und kann Ihre Fragen beantworten. Nein, das ist Arbeit.
Interview: Sophie Fessl; Bilder: Präsenz Fotografie, Barmherzige Schwestern Pflege GmbH / Bubu Dujmic

Helga Rohra,
Demenzaktivistin
Helga Rohra wurde 1953 in Siebenbürgen geboren und kam 1972 über Nürnberg nach München. Sie arbeitete als Dolmetscherin mit dem Schwerpunkt medizinische Forschung. Mit 54 Jahren erhielt sie die Diagnose Lewy-Body-Demenz. Seither kämpft sie als Demenzaktivistin auf nationaler und internationaler Ebene für die Rechte von Demenzbetroffenen. Sie gründete 2012 die European Working Group of People with Dementia, deren erste Vorsitzende sie war. 2014 wurde sie mit dem Deutschen Engagementpreis ausgezeichnet. In ihren Büchern erzählt die Münchnerin über den Weg zur Diagnose, ihren Alltag mit Demenz und ihren Aktivismus.