Hämophilie: Gentherapie als Chance
Bei Hämophilie zeichnet sich der Schlüssel zu einer dauerhaften Behandlung ab. Eine Gentherapie soll das fehlerhafte Gen ersetzen – der Körper erzeugt den Gerinnungsfaktor wieder selbst. Klinische Studien dazu sind vielversprechend, sagt Ansgar Weltermann, Leiter der 1. Abteilung Hämatologie am Ordensklinikum Linz Elisabethinen.
„Bei der Hämophilie handelt sich um eine monogenetische Erkrankung“, erklärt Weltermann die Grundlagen. Je nachdem, ob sich die Veränderung in dem Gen befindet, das für Gerinnungsfaktor VIII kodiert, oder in dem, das für Faktor IX kodiert, spricht man von einer Hämophilie A oder B. Der entsprechende Blutgerinnungsfaktor wird dann nicht oder in geringerer Menge gebildet. „Wenn die Aktivität des Faktors unter 5% des Normalwerts sinkt, steigt das Risiko für spontane Blutungen stark an.“
Um das Blutungsrisiko zu senken, werden PatientInnen mit schwerer Hämophilie derzeit mit einer sogenannten Heimsubstitution behandelt. „Die Patienten müssen sich alle zwei bis drei Tage den fehlenden Gerinnungsfaktor in die Vene spritzen“, erläutert Weltermann. „Intravenös Spritzen ist kompliziert. Doch das wahre Problem ist, dass 20 bis 30 Prozent der Patienten mit Hämophilie einen Hemmkörper gegen das Ersatzpräparat entwickeln. Dieser bindet am zugeführten Gerinnungsfaktor, dadurch wirkt er nicht mehr so gut und wird rasch abgebaut. Die Therapie ist nicht mehr effektiv – das ist eine sehr bedrohliche Situation.“
Defektes Gen im Körper ersetzen
Gentherapie könnte ein Alternative sein. Das Prinzip ist simpel: „Es geht darum, irgendwo im Körper Zellen dazu zu bringen, den Gerinnungsfaktor wieder zu produzieren.“ Für eine solche Gentherapie gibt es mehrere Ansätze. Zellen könnten außerhalb des Körpers so manipuliert werden, dass sie den Gerinnungsfaktor erzeugen, und anschließend im Körper angesiedelt werden. Andererseits könnte die genetische Information in eine sogenannte „Genfähre“, einem Virusvektor, verpackt direkt in die Körperzellen eingeschleust werden. Das „korrekte“ Gen integriert sich in die normale DNA und dient als Bauplan für funktionale Gerinnungsfaktoren.
„Es geht darum, irgendwo im Körper Zellen dazu zu bringen, den Gerinnungsfaktor wieder zu produzieren“, erklärt Primar Ansgar Weltermann.
Seit mehr als 20 Jahren wird an diesen Möglichkeiten geforscht, doch bisher scheiterten sie an zwei Problemen. „Erstens ging der Effekt schnell wieder verloren: In den ersten Wochen erzeugten die Zellen den Gerinnungsfaktor, nach einem Jahr leider nicht mehr. Zweitens war das Risiko erhöht, dass Patienten Krebs entwickeln, insbesondere bestand ein erhöhtes Leukämierisisko. Denn wenn die Gensequenz irgendwo im normalen Genom eingebaut wird, kann das Risiko einer genetischen Instabilität ansteigen.“
Neue Ansätze für den Genersatz
Zwei Studien präsentieren nun neue Ansätze, die diese Probleme umgehen, berichtet Weltermann. „Für die Behandlung von Hämophilie A wurde ein Virusvektor verwendet, der, anders als bisher, die korrekte Genvariante nicht in das normale Genom einbaut. Die korrekte Genvariante bleibt außerhalb des Genoms, aber trotzdem in der Zelle und führt zu einer Kodierung und letztlich Synthese des fehlenden Gerinnungsfaktors VIII.“ Diese Valoctocogene Roxaparvovec Gentherapie von BioMarin mit dem Adeno-assoziierten Virus AAV5 wurde an 15 PatientInnen in unterschiedlichen Dosierungen getestet. „Die Hälfte davon haben eine Faktor VIII-Aktivität von 20 Prozent – das ist hervorragend“, sagt Weltermann. Die Blutungsrate dieser PatientInnen lag bei null. Über drei Jahre lang produzierten die PatientInnen weiter ausreichend Gerinnungsfaktor. Nur bei PatientInnen, die eine niedrige Dosis der Gentherapie erhielten, war die langfristige Aktivität nicht ausreichend hoch. „Das ist ein Durchbruch: Die Patienten brauchen keine Infusion mehr, damit gibt es auch kein Risiko mehr, dass sie einen Hemmkörper gegen den Gerinnungsfaktor bilden, wenn die Therapie frühzeitig eingesetzt wird.“
Die zweite Studie testete eine Gentherapie bei Hämophilie B. „Der Ansatz ist noch ein Stückchen bestechender“, erklärt Weltermann. „Denn die Blutgerinnung läuft immer in Form von Kettenreaktionen ab, ein Faktor aktiviert den nächsten – aber mit hundert- bis tausendfacher Steigerung. Ein Faktor IX aktiviert also mindestens 100 Faktoren X. In dieser Studie hat man deshalb ein genetische Variante eines Faktor IX entwickelt, der stärker an Faktor X als ‚normaler Faktor IX‘ bindet und so eine stärkere Gerinnung auslöst.“ Bei den 10 PatientInnen stieg die Faktor IX-Aktivität auf 33%. „Das ist fantastisch, auch die Blutungsrate ging massiv hinunter.“
Beide Studien verzeichneten kaum Nebenwirkungen, berichtet Weltermann. „Ein vorübergehender Anstieg der Leberwerte wurde mit Kortison erfolgreich unterdrückt. Da das korrekte Gen nicht in das normale Genom der Zellen eingebaut wird, ist die Wahrscheinlichkeit einer Krebserkrankung äußerst gering. Außerdem bildeten die Patienten keine Hemmkörper gegen den Gerinnungsfaktor.“
Zulassung bereits beantragt
Bei PatientInnen, die aufgrund einer Ersatztherapie bereits einen Hemmkörper gegen den Gerinnungsfaktor gebildet haben, ist die Gentherapie allerdings nicht wirksam – die Antikörper würden auch den vom Körper produzierten Gerinnungsfaktor binden. Aber es gibt Hoffnung: „Der Antikörper emicizumab verbindet die Gerinnungsfaktoren IX und X und löst so die Gerinnung aus. Diese bereits zugelassene Behandlung wirkt auch bei Patienten, die einen Hemmkörper bilden.“
Für beide Gentherapien wurde die Zulassung beantragt. „Für die Gentherapie bei Hämophilie A wurde im Dezember 2019 eine beschleunigte Zulassung bei der EMA beantragt. Wenn alles gut geht, sollte in einem halben bis dreiviertel Jahr die Stellungnahme der Arzneimittelbehörde vorliegen.“ Weltermann sieht in der Gentherapie eine Chance für Hämophilie-PatientInnen. „Man kann sich nur wünschen, dass wir, wenn die Gentherapie zugelassen wird, diese Erkrankung nicht mehr kennen. Nach einer Diagnose würde ein Kind einmal eine Gentherapie halten und damit wäre die Geschichte erledigt – das wäre doch fantastisch!“
Text: Sophie Fessl; Bild: depositphotos.com

Ansgar Weltermann, Univ.-Doz. Dr. med.
Leiter der 1. Abteilung Hämatologie am Ordensklinikum Linz Elisabethinen
Der Facharzt für Hämatologie und Onkologie ist seit 2019 Leiter des Tumorzentrums Oberösterreich und des Zentrums für Tumorerkrankungen am Ordensklinikum Linz. Hauptaufgabe ist die Förderung und Weiterentwicklung eines spitals- und trägerübergreifenden onkologischen Netzwerks, welches von einer multiprofessionellen Zusammenarbeit der Fachexpertinnen und Fachexperten aus den beteiligten Spitälern lebt. Sein langjähriger Forschungsschwerpunkt war das Thema der venösen Thrombosen, die gerade bei Krebserkrankungen gehäuft auftreten.