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Österreich
12.02.2020

Inklusive Medizin: Ein Angebot, das immer wichtiger wird

Wenn Menschen mit Mehrfachbehinderung medizinische Versorgung benötigen, ergeben sich besondere Anforderungen und auch manche Hürden. Die Ambulanz für Inklusive Medizin im Konventhospital der Barmherzigen Brüder in Linz ist genau darauf spezialisiert.

Ungewohnte Situationen, Angst vor Untersuchungen und Schmerzen, beschränkte Ausdrucksmöglichkeiten, erschwerte Kommunikation: Ein Arzt- oder Spitalstermin bedeutet für Menschen mit intellektuellen beziehungsweise mehrfachen Beeinträchtigungen oft Verunsicherung, Stress und Missverständnisse. Rund 5000 Personen umfasst diese Gruppe allein in Oberösterreich. Auch für sie einen barrierefreien, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Zugang zum Gesundheitssystem zu bieten, ist Ziel der Ambulanz für Inklusive Medizin (AIM), die im Herbst 2018 eröffnet wurde.

Mehr als 500 Patientinnen und Patienten aus allen Regionen des Landes haben seither dort Hilfe gefunden. „Unsere Zielgruppe sind Menschen, die älter als 16 Jahre sind und angeborene oder früh erworbene neurogene Entwicklungsstörungen aufweisen“, erklärt Oberarzt Joachim Adl. Der Facharzt für Neurologie leitet die Spezialambulanz, die dem Institut für Sinnes- und Sprachneurologie von Abteilungsvorstand Johannes Fellinger angegliedert ist.

Gruppenfoto

Joachim Adl (rechts) leitet die Ambulanz für Inklusive Medizin.

Die AIM bietet Diagnostik und Therapie spezifischer Störungsbilder mit neurologischem Schwerpunkt, wie zum Beispiel Zerebralparesen, Epilepsie, autistische Störungen oder Schädel-Hirn-Traumata. Darüber hinaus ist die Ambulanz für die Betroffenen aber auch eine Drehscheibe zu den Fachabteilungen des Konventspitals und kooperierenden Einrichtungen wie dem benachbarten Ordensklinikum Linz Barmherzige Schwestern. „Wir vermitteln interdisziplinäre, multiprofessionelle Abklärung, Therapie und Begleitung in allen gesundheitlichen Fragen, von der Abklärung unklarer Schmerzen bis zur Vorsorgeuntersuchung“, skizziert Adl.

Zu seinen Aufgaben gehört es daher auch, notwendige Untersuchungen und Therapiemaßnahmen zu organisieren und zu koordinieren, damit Wartezeiten für die Patientinnen und Patienten möglichst vermieden werden. Angehörige, Hausärzte und gegebenenfalls Betreuungseinrichtungen sind eingebunden und erhalten alle relevanten Informationen.

Sich Zeit nehmen, sich einlassen

„Der wichtigste Faktor ist, sich Zeit zu nehmen, sich auf die Bedürfnisse, aber auch auf die Verhaltensmuster der Betroffenen einzulassen und falls nötig zu deeskalieren“, betont der Neurologe. So kann ein Erstkontakt in der AIM auch einmal zwei, drei Stunden dauern oder sich schon das Betreten der Ambulanzräume über eine längere Zeit hinziehen – Situationen, in denen niedergelassene Ärzte oder andere Ambulanzen an ihre Grenzen gelangen.

„Der wichtigste Faktor ist, sich Zeit zu nehmen“, erklärt Oberarzt Joachim Adl, Leiter der Ambulanz für Inklusive Medizin im Konventhospital der Barmherzigen Brüder in Linz.

Die AIM will jedoch keinesfalls mit Hausärzten in Konkurrenz treten, sondern versteht sich als Ergänzung. „Natürlich haben Menschen mit Mehrfachbehinderung auch weiterhin Zugang zu jeder Praxis und jeder Ambulanz. Wir wollen da sein für jene Patienten und An- bzw. Zugehörigen, die im bisherigen Gesundheitssystem an Grenzen stoßen“, stellt Adl klar. Im ärztlichen Kollegenkreis ortet er zwar manchmal noch ein gewisses Unverständnis, doch zunehmend auch Interesse und die Bereitschaft zu Kooperation und Vernetzung.

Entlastung für das Gesamtsystem

Ein Ziel der Spezialambulanz ist es auch, unnötige Spitalsaufenthalte zu vermeiden und zu verhindern, dass Betroffene im Kreis geschickt werden. Darin steckt – neben den Vorteilen für die Patientinnen und Patienten – ein nicht unerhebliches Sparpotenzial und eine Chance, das Gesundheitssystem zu entlasten. „Schlussendlich, in der Gesamtbetrachtung, rechnet sich Inklusive Medizin“, ist der AIM-Leiter überzeugt.

Dass sie immer wichtiger wird, steht für ihn ohnehin außer Zweifel: Auch Menschen mit Mehrfachbehinderungen werden immer älter. Dass diese Brisanz vordergründig noch kaum ein Thema ist, liege an der fehlenden Lobby der Betroffenen und an der oft schwierigen Lebenssituation ihrer Angehörigen, die, so Adl, „oft am Ende ihrer Kräfte sind“. Tatsächlich sind ambulante Versorgungsstrukturen für erwachsene Menschen mit Mehrfachbehinderungen und Entwicklungsstörungen noch rar. Neben dem AIM in Linz gibt es in ganz Österreich nur wenige andere, ähnliche Einrichtungen, zum Beispiel. im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien und im Landesklinikum Melk.

Aufbauarbeit ist weiter nötig

Auch die AIM – erst kürzlich mit dem Inklusionspreis der Lebenshilfe ausgezeichnet – befinde sich noch in der „Pionierphase“, betont Adl. Es sei noch viel Aufbauarbeit nötig, um personell und räumlich nachhaltige Strukturen zu schaffen und zu sichern. Für ein großes Manko hält er, dass es in Österreich keine Ausbildung in Inklusiver Medizin gibt – im Gegensatz zu Deutschland, wo schon ein Curriculum dafür existiert (das der Linzer Neurologe bereits selbst absolviert hat). Inzwischen gibt es auch „D-A-CH Inklusive Medizin“, einen länderübergreifenden Dachverband, dem Ärztinnen und Ärzte aus Österreich, Deutschland und der Schweiz angehören; Ende Jänner wurde in Basel eine Fachtagung abgehalten.

Am 29. April wird sich die Ärztekammer OÖ. in einer Fortbildungsveranstaltung in Linz dem Thema „Inklusive Medizin für Menschen mit intellektueller und mehrfacher Beeinträchtigung – Medizinische und psychosoziale Herausforderungen und Good-Practice-Modelle in der Praxis“ widmen. Fellinger und Adl sind als Referenten mit dabei.

Wie aber empfinden die betroffenen Patientinnen und Patienten die Ambulanz für Inklusive Medizin und deren Angebote? Persönliches Feedback zu erhalten, sei da naturgemäß oft schwierig, sagt Adl: „Aber wir erleben immer wieder `Goldene Momente`.“

Text: Josef Haslinger

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