Wie Digitalisierung Intensivmedizin und perioperative Behandlung verändert
Künstliche Intelligenz und Datenaustausch zwischen Spitälern werden helfen, Patient*innen in OP und Intensivmedizin besser zu betreuen, sagt die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (ÖGARI). Sie hat einen Expertenkreis Digitalisierung gegründet. Geleitet wird dieser von Oliver Kimberger, Professor für perioperatives Informationsmanagement an der Abteilung für Allgemeine Anästhesie und Intensivmedizin der MedUni Wien, der bei der ÖGARI Jahrestagung vom 24. bis 26. Oktober einen Keynote-Vortrag zu diesem Thema halten wird.
Sie wurden zum Leiter der Arbeitsgruppe „Digitalisierung“ der ÖGARI bestellt. Warum wurde diese Arbeitsgruppe gerade jetzt eingerichtet?
Oliver Kimberger: Es gibt meiner Meinung nach keinen besseren Zeitpunkt als jetzt, um dieses Thema aufzugreifen. Die Digitalisierung ist extrem wichtig, und gerade im Bereich der Anästhesie und Intensivmedizin tut sich in diesem Themenfeld sehr viel. Wir erwarten viele spannende Entwicklungen im OP, auf der Intensivstation sowie in Bereichen wie Telemedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie.
Sie erwähnten in einem Videostatement die große und schon jetzt vorhandene Menge an strukturierten Daten im OP und auf den Intensivstationen. Wie sehen Sie deren Bedeutung für die Zukunft?
Oliver Kimberger: Diese Daten sind ein Schatz, der vielfach erst gehoben werden muss. In Zukunft werden diese Daten uns dabei helfen, die Gesundheit unserer Patient*innen zu verbessern. Zum Beispiel können wir durch Prädiktion besser vorhersagen, wie Patient*innen auf Medikamente reagieren oder wie sich ihr Gesundheitszustand entwickeln wird. Frühwarnsysteme könnten uns zudem noch früher als bisher informieren, wenn sich der Zustand von Patient*innen verschlechtern wird – sowohl im OP als auch auf der Intensivstation. Das Ziel ist es, personalisierte Medizin besser zu ermöglichen, indem wir zum Beispiel Medikamentendosierungen KI-basiert optimal auf einzelne Patient*innen abstimmen.
Das klingt vielversprechend. Welche Rolle wird KI spielen?
Oliver Kimberger: KI wird sicherlich eine sehr große Rolle spielen. In nicht allzu ferner Zukunft könnten dann sogar geschlossene Systeme, sogenannte Closed-Loop-Systeme, eingesetzt werden, bei denen der Mensch wie bei einem Autopiloten zwar noch weiter die Überwachung übernimmt, aber nicht mehr aktiv die Medikamentenverabreichung oder Beatmung steuern wird. Dies bedarf jedoch noch vieler wissenschaftlicher Studien, technischer Entwicklungen, neuer rechtlicher Rahmenbedingungen und natürlich auch einer engen Zusammenarbeit mit der Industrie.
Gibt es Sorgen, dass KI-Entwicklungen Arbeitskräfte, zum Beispiel Anästhesist*innen, ersetzen könnten?
Oliver Kimberger: Diese Sorge ist nicht ganz unberechtigt, wenn KI-Algorithmen zur Kompensation von Arbeitskräftemangel verwendet werden anstatt zur Verbesserung der Patient*innenbehandlung. Kompensation von Personalmangel durch KI ist aber meiner Ansicht nach ein völlig falscher Ansatz. Das Ziel dieser neuen Technologien ist es, die Performance von Ärzt*innen weiter zu verbessern, nicht Ärzt*innen zu ersetzen. Ein gutes Beispiel ist die Radiologie: Anfangs gab es dort auch die Befürchtung, dass Radiolog*innen durch KI ersetzt werden könnten. Heute sehen wir jedoch, dass KI-Tools als wertvolle Unterstützung in der Radiologie wahrgenommen werden und nicht als Bedrohung der Existenz von Radiolog*innen.
Ärzt*innen werden lernen müssen, mit KI-Tools umzugehen. Wie sieht die Zukunft der medizinischen Ausbildung in diesem Bereich aus?
Oliver Kimberger: Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Digitalmedizin in die Ausbildung integriert wird, sowohl im Studium als auch in der Facharztausbildung. Unsere Ärzt*innen müssen lernen, mit KI-Tools umzugehen, denn diese können Fehler machen, die wir von herkömmlichen Algorithmen nicht kennen. Es ist wichtig, sowohl die Stärken als auch die Schwächen dieser neuen Werkzeuge zu verstehen.
Welchen Beitrag kann die Vernetzung der Krankenhäuser dazu leisten — Vernetzung unabhängig davon, wer ein Krankenhaus betreibt?
Oliver Kimberger: Die Vernetzung der Krankenhäuser wird uns Zugang zu großen und vor allem viel diverseren Datenmengen geben. Algorithmen funktionieren nur so gut und so fair wie die Daten beschaffen sind, mit welchen sie trainiert wurden. Daher ist es wichtig, Datensilos zu öffnen und österreichweit Anästhesie- und Intensivmedizindaten in gleiche Formate zu übertragen, sodass die Datenbanken tatsächlich miteinander „kommunizieren“ können. Nur so können wir sicherstellen, dass die entwickelten Algorithmen bei einer Vielzahl von ganz unterschiedlichen Patient*innengruppen qualitätsvoll anwendbar sind.
Wie wird die ÖGARI-Arbeitsgruppe ethische Fragen im Zusammenhang mit KI angehen?
Oliver Kimberger: Ethische und rechtliche Rahmenbedingungen sind natürlich ein zentrales Thema. Der kürzlich veröffentlichte EU AI Act gibt ein europaweites Rahmenregelwerk für KI-Anwendungen vor, das auch in der Medizin Anwendung finden wird. Unsere Arbeitsgruppe wird sich intensiv mitgestaltend einbringen, um sicherzustellen, dass die nationalen Regelungen den medizinischen Anforderungen gerecht werden.
Was ist das langfristige Ziel Ihrer Arbeitsgruppe?
Oliver Kimberger: Unser Ziel ist es, die Menschen, die sich für KI und Data Science in der Anästhesie und Intensivmedizin interessieren, zu vernetzen, gemeinsame Studien durchzuführen und die Wissenschaft voranzutreiben. Ein Fernziel ist die Schaffung einer Öffnung der Anästhesie- und Intensivdatenbanken der Krankenhäuser, um unter anderem eine Vernetzung dieser Daten, die auf föderierter Basis arbeitet, zu ermöglichen. Mit diesem Ansatz bleiben die Daten in den Krankenhäusern, aber Algorithmen können dennoch effizient trainiert und genutzt werden.
Interview: Josef Broukal
Fotos: MedUni Wien/Christian Houdek; navigamus e.U

Oliver Kimberger, Univ.-Prof. Dr., MBA, MSc
Geschäftsführender Oberarzt an der Abteilung für Allgemeine Anästhesie und Intensivmedizin an der Medizinischen Universität Wien / AKH Wien
Oliver Kimberger ist derzeit geschäftsführender Oberarzt an der Abteilung für Allgemeine Anästhesie und Intensivmedizin an der Medizinischen Universität Wien / AKH Wien, die er 2023 bis 2024 kommissarisch leitete. Seit 2021 ist er Professor für perioperatives Informationsmanagement. Nach Abschluss seines Medizinstudiums arbeitete Kimberger als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Inselspital in Bern, 2008 schloss er seine Ausbildung zum Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin ab. Kimberger ist auch Notarzt und hat zwei Masterstudien absolviert, den Master of Science für Medizinische Biometrie/Biostatistik an der Universität Heidelberg und den MBA für Health Care Management an der Medizinischen Universität Wien.