Einmal noch eine Auszeit nehmen, wenn das Ende nah ist
Der Verein Rollende Engel erfüllt schwerkranken Menschen einen letzten Wunsch – ehrenamtlich, kostenlos und prompt. Weil oft nur noch wenig Zeit bleibt.
Bis zur Zielflagge des Lebens ist es für Jürgen nicht mehr weit. Der 50-jährige Steirer leidet an einem Gehirntumor im Endstadium. Nun hat sich der begeisterte Formel-1-Fan einmal selbst als Weltmeister gefühlt: Eskortiert von acht Ferrari-Boliden, hat er den Red Bull Ring in Spielfeld umrundet – bettlägerig in einem Spezialfahrzeug, eingehüllt in eine rote Ferrari-Bettdecke, beklatscht von Streckenposten entlang der Rennstrecke.
Jürgen ist einer von bisher rund 40 Österreicherinnen und Österreichern mit eng begrenzter Lebenserwartung, denen der Verein Rollende Engel ihren letzten Wunsch erfüllt hat. So wie jener betagten Dame, die zum ersten Mal mit einer Seilbahn fahren wollte. Einem Landwirt, der sich auf der Alm von seinen Kühen verabschieden konnte. Einem Passagier, der aus der eigens umgebauten Gondel eine letzte Fahrt im Heißluftballon genoss. Oder der krebskranken Mutter, die zusammen mit ihrer Tochter eine Privatführung durch die Van-Gogh-Ausstellung in Linz erhielt, ehe sie wenige Stunden später verstarb.
Termin binnen 48 Stunden
„Bisher war kein Wunsch dabei, den wir als unerfüllbar ablehnen mussten“, erklärt Florian Aichhorn, der Initiator und Obmann des Vereins Rollende Engel. Das liegt wohl auch daran, dass der 41-jährige Welser es von seinem Beruf als Tour-Manager internationaler Künstler gewohnt ist, scheinbar Unmögliches auf die Schnelle zu organisieren. Und schnell muss es immer gehen, wenn sich Angehörige, Freunde oder Krankenhausmitarbeiter mit den letzten Wünschen sterbenskranker Patientinnen und Patienten an ihn wenden. „Wir brauchen maximal 48 Stunden, um einen Termin zu organisieren. Oft schaffen wir es in acht Stunden“, sagt der bestens vernetzte Oberösterreicher.

Vor zwei Jahren lernte er durch Zufall in einem Hotel die Familie eines todkranken Buben kennen, der sich nichts sehnlicher wünschte, als einmal in einem Rallyeauto zu sitzen. Gesagt, getan: Schon bald darauf drehte der Zehnjährige in einem ÖAMTC-Fahrtechnikzentrum einige Runden als Copilot von Rallye-Ass Patrick Winter. „Er vergaß seine Schmerzen und war einfach glücklich. Daraus ist die Idee für die Rollenden Engel entstanden“, schildert Florian Aichhorn, der zehn Jahre lang als Rettungssanitäter tätig war.
Fahrende Intensivstation ohne ITV-Ambiente
Doch die Behörden konnten dieser Idee anfangs wenig abgewinnen: Liegendtransporte sind in Österreich den Rettungsorganisationen vorbehalten. So dauerte es neun lange Monate, ehe der Verein im Jänner 2020 gegründet werden konnte. Ein gebrauchter Schulbus wurde angekauft und zum „Engel“ umgebaut: einem Spezialfahrzeug, das im Grunde eine fahrende Intensivstation ist, sich das aber nicht anmerken lässt. Holzboden und Holzschränke, Innenlicht mit stimmungsvollen Designs und große Fenster, die von außen blickdicht sind, schaffen ein angenehmes, sicheres Ambiente.

Mit dem „Engel“ kann ein Patient, liegend oder im Rollstuhl, samt Begleitperson transportiert werden. Jede „Wunschfahrt“ übernehmen ausgebildete Helferinnen und Helfer. Je nach Anforderung und Rücksprache mit dem betreuenden Krankenhaus sind das Rettungs- oder Notfallsanitäter, diplomierte Pflegepersonen oder Notfallärzte.

Sie alle engagieren sich – wie Florian Aichhorn selbst – ehrenamtlich für den Verein; das Team zählt mittlerweile 24 Leute. Die Wunschfahrt ist für die Patientinnen und Patienten beziehungsweise ihre Angehörigen völlig kostenlos. Der Verein erhält keine staatlichen Subventionen und wird ausschließlich durch Spenden, Patenschaften und Sponsoren unterstützt. Auch die Startgelder für einen virtuellen „Charity Run“, der heuer von 23. bis 25. April stattfindet, kommen zu 100 Prozent dem Verein zugute.
"Weil es Freude macht, zu helfen, auch in solchen Situationen. Weil man dabei Demut und Dankbarkeit lernt. Und weil auf den Fotos, die wir bei den Wunschfahrten machen, alle lächeln."
Wunschanfragen können ganz einfach über ein Online-Formular auf der Vereinshomepage (www.rollende-engel.at) gestellt werden. „Bitte haben Sie keine Scheu, uns zu kontaktieren. Und bitte warten Sie damit nicht zu lange, denn die Zeit, die noch bleibt, ist oft sehr kurz“, appelliert der Obmann an Angehörige, aber auch an Krankenhausmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, die schwerkranke Menschen betreuen und von deren Wünschen wissen.
Intensive und berührende Momente
Wird nicht doch jede Wunschfahrt von Angst und Beklemmung überschattet? „Natürlich ist das keine lustige Ausflugsfahrt. Aber es ist schön, auch die Freude der Fahrgäste zu erleben“, so Aichhorn. Je näher das Ende der Fahrt rückt, umso deutlicher würden manche Patientinnen und Patienten verspüren: Das war es dann. „Doch ich bin mir sicher: Das hat ein Mensch, der stirbt, zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon realisiert.“
Manche Wunschfahrt bringt auch die Helferinnen und Helfer an ihre Grenzen. „Der 25. Dezember war wirklich hart“, erinnert sich der Vereinsgründer an eine 32-jährige Krebspatientin aus dem Innviertel, die am Weihnachtstag in ihrem Elternhaus vor dem Christbaum Abschied von ihrem achtjährigen Sohn nahm. „Wenn du da zur Rückfahrt die Hecktür des Transporters schließen musst…“ sagt Florian Aichhorn und lässt den Satz unvollendet. Das Gespräch in der Gruppe, aber auch das Schreiben der Einsatzberichte und der Dank der Angehörigen helfen bei der Aufarbeitung.
Bleibt die Frage: Warum tut man sich so etwas freiwillig an? „Weil ich selbst meine Lebensgefährtin durch eine Krankheit verloren habe“, sagt Florian Aichhorn. „Weil es Freude macht, zu helfen, auch in solchen Situationen. Weil man dabei Demut und Dankbarkeit lernt. Und weil auf den Fotos, die wir bei den Wunschfahrten machen, alle lächeln“.
Text: Josef Haslinger; Bilder: Rollende Engel