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Gesundheit
Österreich
13.11.2019

„In der Pflege ist kein Stein auf dem anderen geblieben“

Regina Kickingereder war 42 Jahre im Pflegeberuf im Ordensklinikum Linz Elisabethinen tätig. Die letzten 14 Jahre als Pflegedirektorin. Im Interview spricht sie über die Entwicklung des Berufsbildes, die zukünftigen Betätigungsfelder und wie man neue Mitarbeiter gewinnen kann.

Sie haben mehr als 40 Jahre im Bereich Pflege gearbeitet – wie sehr hat sich der Beruf im Laufe der Zeit verändert?

Regina Kickingereder: Zusammenfassend kann man sagen: In der Pflege ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Mit der Ausbildung, die ich vor 42 Jahren begonnen habe, könnte ich heute in der Gesundheits- und Krankenpflege nicht mehr existieren. Damals war der Fokus auf der allgemeinen Versorgung der Patientinnen und Patienten. Heute ist die zentrale Aufgabe, sich nach den Bedürfnissen der zu versorgenden Menschen zu orientieren. Die dafür nötigen Schritte sind im Pflegeprozess festgeschrieben – die Planung, Organisation, Durchführung und Dokumentation sowie Evaluierung.

Wobei wir bei Patienten von einem vielfältigen Menschengut sprechen: dazu gehören etwa Frauen, die gerade Kinder zur Welt gebracht haben, verletzte und verunfallte Menschen, solche, die operative Eingriffe oder nur medizinische Therapie benötigen und einfach kranke und pflegebedürftige Menschen.

Außerdem ist die Versorgung der uns anvertrauten Menschen hochkomplex geworden. Es gibt nie mehr nur den Patienten, der zum Beispiel einen Unfall hatte, sondern dieser leidet vielleicht auch an Diabetes oder an einer Durchblutungsstörung. Das heißt, man muss den Fokus auf verschiedene und gleichzeitig bestehende Krankheitsbilder legen. Und das bedeutet auch, dass wir heute zu den sehr gut allgemein ausgebildete Gesundheits- und Krankheitspflegerinnen zusätzliche Pflegeexperten benötigen.

Das Jobprofil der Pflege ist also permanent im Wandel, in welche Richtung wird es sich weiterentwickeln?

Eine besonders spannende Entwicklung der letzten Zeit war der Beschluss, die Ausbildung neu aufzustellen und die Integration eines neuen zusätzlichen Berufsbildes. Die drei nun existierenden haben verschieden lange Ausbildungszeiten, dazu kommen Sonderausbildungen für bestimmte Arbeits- und Einsatzgebiete wie etwa in der Intensivstation, im OP Saal, an der Anästhesie oder an der Dialyse, weil die Anforderungen dort viel komplexer sind.

„Das Thema Spezialisierung und Expertentum wird immer wichtiger werden.“

Damit sind wir auch schon bei der Zukunft – das Thema Spezialisierung und Expertentum wird immer wichtiger werden. Nicht nur in der Medizin sondern auch in der Pflege. Die fortlaufende Ausbildung und Etablierung von Pflegefachexpertinnen, sogenannten Advanced Practice Nurses, für die direkte Pflegepraxis werden zunehmend bedeutsamer.

Ein Beispiel für Spezialisierung sind die Breast Care Nurses. Ihre Ausbildung befähigt sie, Brustkrebspatientinnen während des ganzen Behandlungsprozesses kompetent betreuen zu können. Will man also eine Fachklinik für Brustkrebs aufbauen, muss man nicht nur hervorragende Chirurgen und Onkologen im Team haben, sondern auch die Expertise der Breast Care Nurse.

Das bringt uns gleich zu einem weiteren zentralen Zukunftsthema – der Interdisziplinarität. Es ist das Gesetz der Stunde, dass man sich multidisziplinär um spezielle Erkrankungen kümmert.

Eine Ihrer Zukunftsvisionen ist auch, dass Pflege mobil werden muss. Wie kann das aussehen?

Stimmt, dafür habe ich mich in den letzten Jahren häufig ausgesprochen. Tatsache ist, dass Pflege im Krankenhaus sehr gut läuft. Schaut man sich aber Umfragen an, wollen 80 Prozent aller Menschen zu Hause betreut werden und dort sterben. In der Realität können das aber nur 20 Prozent. Ein mobiles Versorgungssystem, wie in Skandinavien, könnte ein Vorbild sein.

Mein Anliegen umfasst aber auch, das Expertentum nach Hause zu bringen. Nicht jeder Patient muss zu jeder Untersuchung oder Behandlung immer ins Krankenhaus oder die Ordination. Oft muss sich dafür ja auch extra jemand frei nehmen, um diesen zu transportieren oder begleiten. Bekäme also etwa ein Patient mit chronischer Wunde einen Hausbesuch von der Wundmanagerin, wäre das eine effiziente Lösung. Als Beispiel darf ich das Projekt „Bleiben Sie Mobil“ bei den Elisabethinen nennen, bei dem Physiotherapeuten die Patienten zu Hause betreuen. Das könnte man eben auch auf pflegerelevante Themen ausdehnen. Zum Beispiel Mobiles Wundmanagement.

Von der mobilen zur niedergelassenen Pflege. Wie stehen Sie zu diesem Thema? Hat das auch Zukunftspotential?

Absolut! Die Bandbreite ist hier groß und reicht von der Arbeit in Ordinationen, die engen Kontakt mit Krankenhäusern haben, bis zur selbstständigen Pflegeexpertin mit eigenem Stützpunkt. Das würde die Attraktivität des Berufes enorm steigern. Das Problem ist hier noch das Verrechnungssystem. Die Physiotherapeuten etwa haben das schon mit den Krankenkassen geregelt. Bei der Pflege gibt es das noch nicht.

Sie waren die letzten Jahre Pflegedirektorin – wie hat sich Ihrer Erfahrung nach der Bereich Pflegemanagement entwickelt?

Als ich 1979 nach meiner Ausbildung angefangen habe zu arbeiten, gab es noch gar keine Pflegedirektion. Das kam erst 1982. Die Aufgabe ist eine ganz wesentliche, gilt es doch Rahmenbedingungen zu schaffen und so zu gestalten, dass die Mitarbeiter gute Arbeit leisten können. Dabei trägt man nicht nur für Pflegemitarbeiter Verantwortung – bei mir waren das rund 900 –, sondern für den gesamten Mitarbeiterstab, da man auch als Mitglied der kollegialen Führung fungiert.

Heute ist diese vielfältige Aufgabe aber ohne fundiertes Managementstudium nicht zu erfüllen. Betriebswirtschaftsführung darf kein Schlagwort mehr sein, Budget- und Personalverantwortung gehören dazu, denn ein Krankenhaus ist ein Unternehmen geworden. Man braucht also auch ein Team aus Spezialisten, das die einzelnen Aufgabenfelder abdeckt.

Pflege gilt ja als zentrale Herausforderung unserer Zeit. Woran muss man am meisten arbeiten?

Nicht die Pflege ist die Herausforderung, sondern die Versorgung der Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen – und dabei sind alle Gesundheitsberufe gefragt. Die Pflege an sich sehe ich dabei als Schlüssel, um dieser Herausforderung zu begegnen. Die Mitarbeiter dafür hätten wir, diese sind exzellent ausgebildet, motiviert und sehr bereit einen Beitrag zu leisten.

„Es ist an der Zeit, den Mut aufzubringen, die Organisation der Krankenhäuser neu zu denken.“

Das große ABER – und das traue ich mich nach 40 Jahren Erfahrung zu sagen – ist, dass sich die Organisation der Krankenhäuser nicht verändert hat. Diese ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. So wird immer noch in Berufsgruppen statt in Prozessen gedacht. Es ist an der Zeit, den Mut aufzubringen, die Organisation neu zu denken.

Wie könnte man denn diese Neuorganisation umsetzen?

Ein Ansatz könnte sein, dass alle am Behandlungsprozess beteiligten Berufsgruppen ihre Aufgaben und Tätigkeiten darstellen und aufzeigen, um diese dann der Berufsgruppe mit ihrer jeweiligen Kompetenz zuzuordnen. Man müsste also fragen, sind die Aufgaben derzeit richtig verteilt, sind die Arbeitszeiten zu ändern oder braucht es sogar neue Berufsbilder.

Der Mangel an Pflegekräften in Österreich ist immer wieder Thema. Wie schätzen Sie diese Situation ein?

Das ist tatsächlich ein ernstzunehmendes Thema, auf das ja auch schon lange hingewiesen wird. Jetzt ist das Thema aber auch in der Gesellschaft angekommen. Denn es ist klar, dass es nicht mehr funktionieren wird, die Betreuung alter, pflegebedürftiger Menschen zu einem großen Teil an Familienmitglieder auszulagern.

„Wir selbst sind die besten Botschafter!“

Es braucht also Maßnahmen zur Attraktivierung des Berufes. Dabei ist natürlich immer die Rede von Arbeitsbedingungen und Gehalt, es braucht aber auch ausreichend Ausbildungs- und Studienplätze. Außerdem muss man frühzeitig junge Menschen auf diese Berufe neugierig machen, man muss Werbung in Gymnasien und Fachschulen machen und Interessierte ganz unbürokratisch in die Welt der Pflege reinschnuppern lassen. Wir müssen die ganze Bandbreite an Möglichkeiten, die dieser Beruf bietet, aufzeigen, beginnend bei der Fachkompetenz am Bett, über die Kompetenzen in Expertise, der Arbeit in der Mitarbeiteranleitung bis zum Thema Mitarbeiterführung.

Es sind WIR, die Pflegepersonen, gefordert, ein positives Image nach außen zu vermitteln. Nicht zu jammern, sondern zeigen, dass es ein guter und vor allem sinnstiftender Beruf mit Zukunft ist. Wir müssen die positiven Aspekte in den Vordergrund rücken, müssen begeistern. Wir selbst sind die besten Botschafter!

Interview: Heike Kossdorff; Bild: Karl Artmann

Regina Kickingereder,

Ehemalige Pflegedirektorin im Ordensklinikum Linz Elisabethinen

Die Linzerin war von 1979 bis 2000 Dipl. Krankenschwester an der Chir. Abteilung des Krankenhauses der Elisabethinen. Von 2001- 2004 hatte sie die Stationsleitung inne, von 2004 –2012 war sie Stv. Pflegedirektorin und von 2012 - 2018 Pflegedirektorin. Zusätzliche Tätigkeit ab 2012: Fachliche Leitung der Weiterbildung Basales und mittleres Pflegemanagement im IBG. Sie ist verheiratet und hat 2 Töchter.

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