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Gesundheit
Österreich
07.05.2019

"Der Mangel wird zunehmend dramatisch werden"

Ursula Frohner, Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes über den herrschenden Pflegemangel, die Rolle der Pflege im niedergelassenen Bereich und notwendige Honorierungssysteme.

Der Mangel an Pflegekräften in Österreich ist ein Dauerthema. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Frohner: Wie bei allen Gesundheitsberufen steht uns eine Zeit bevor, in der einerseits die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Beruf ausscheiden und andererseits die geburtenschwachen zu arbeiten beginnen. Und gleichzeitig steigtdie Anzahl pflegebedürftiger Menschen stark an.Dazu kommt, dass es in ganz Europa einen Mangel an bestimmten Pflegeleistungen gibt, weil auch die Familie – speziell Ehefrauen, Mütter, Töchter, Schwiegertöchter – zunehmend als Versorgungsleister weniger zur Verfügung stehen. Das bedingt eine Mangelsituation, die sich progredient verschärfen wird, wenn wir nicht reagieren.

In welchem Bereich ist der Mangel besonders groß? Krankenhäuser, Altenpflege oder mobile Pflege?

Das zieht sich nicht durch alle Bereiche gleich durch. In der mobilen und Langzeitpflege ist der Mangel sicher am häufigsten. Und der wird zunehmend dramatisch werden. Deshalb müssen unsere Versorgungssysteme neu überdacht werden, die Gesundheitsberufe insgesamt müssen sich die Tätigkeiten und die Versorgungsprozesse neu aufteilen.

Wie könnte das konkret aussehen?

Beim Bereich Primärversorgung hat der Gesetzgeber nicht umsonst der Gesundheits- und Krankenpflege einen Platz im Kernteam gemeinsam mit den Allgemeinmedizinern zugedacht. Weil etwa die Routineversorgungen chronisch Kranker, das Verabreichen von Medikamenten oder die Erhebung von bestimmten Befunden eine der Kompetenzen der Gesundheits- und Krankenpflege sind. Diese Leistungen können auch setting-unabhängig erbracht werden.

Das heißt konkret: Natürlich kann der gehobene Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege auch auf Visite fahren. Oder in der Allgemeinpraxis bestimmte Aufgaben wie die Wundversorgung übernehmen. Diese neue Zuordnung der Aufgaben in der Primärversorgung ist der Schlüssel zu einem modernen Gesundheitssystem. Weg von der Spitalslastigkeit hin zur ambulanten Versorgung und zur Versorgung möglichst lange vor Ort, also zu Hause.

Das heißt, man muss dem Pflegepersonal mehr zutrauen, ihm mehr Aufgaben überlassen?

Das, was im klinischen Bereich im Akutspital durch Pflege geleistet wird, das kann diese selbstverständlich auch im niedergelassenen Bereich. Eine Vene beim Blutabnehmen zu punktieren, ist im Akutspital der gleiche Vorgang wie in der Allgemeinpraxis oder zuhause. Das Schlagwort ist hier setting-unabhängige Anwendung von Kompetenzen. Die haben wir, das lernen wir und das können wir!

Aber natürlich sind diese Leistungen auch durch die Versicherungsträger zu bezahlen. Und das ist einer der Knackpunkte. Denn Leistungskataloge gibt es noch keine. Momentan werden diese Leistungen mit einer Pauschale an den Arzt abgegolten, der eine Subverrechnung an das Pflegepersonal macht. Der hochnotwendige nächste Schritt wäre also, ein adäquates Honorierungssystem zu entwickeln.

"Diese Kompetenzen haben wir, das lernen wir und das können wir!"

Ein wichtiger Schritt ist auch die bedarfsorientierte Versorgung…

Richtig, wir brauchen eine Bedarfsplanung, die zielgruppenspezifisch und niedrigschwellig ist. Nehmen wir das Beispiel Wien: in den 23 Bezirken gibt es einen völlig unterschiedlichen Bedarf. In manchen leben mehr hochaltrige Menschen, in anderen viele kinderreiche Familien, die möglicherweise auch noch bildungsfern sind. Da braucht es unterschiedliche Hilfe. Oder das Beispiel Vernetzung zu mobilen Diensten: Im städtischen Ballungsraum wird der Bedarf der Vernetzung mit der mobilen Pflege nicht so dringend sein, weil die Distanzen zur Primärversorgungseinheit nicht so weit sind. Im ländlichen, weitläufigen Bereich wird diese Vernetzung hingegen viel nötiger sein und auch mehr Nutzen bringen.

So ein Bedarf muss also je nach Region aufgestellt werden?

Ja, der erste Schritt muss eine regionale Bedarfsplanung sein, und in einem zweiten Schritt muss man dann die Struktur aufsetzen. Das sind wichtige nächste Schritte.

Nur solche Angebote können den Spitalssektor wirklich entlasten, können den viel zu teuren Spitalsaufenthalt minimieren und die Selbstzuweisung gleich in die maximale Versorgung, die wir momentan haben, verringern.

Nehmen wir das Beispiel von Menschen, die an Bluthochdruck leiden. Wenn es 36 Grad im Schatten hat, diese Patienten nicht genug getrunken haben und in der Folge blutdrucksenkende Medikation nehmen, dann sind diese möglicherweise zu hoch dosiert und der Blutdruck wird in der Folge zu niedrig sein und eventuell zu einem Kollaps führen, welcher eine Versorgung im Akutkrankenhaus notwendig macht. Wenn man aber vorher dem Bedürfnis entsprechend den Bedarf an Medikamenten und Flüssigkeit einstellt, dann erspart man sich das Rettungsauto, die Akutversorgung und möglicherweise eine zusätzliche Verletzung oder ähnliches auch noch.

Wir brauchen also ein System, das gut analysiert, was auch wirklich notwendig ist. Wir stehen allerdings erst am Anfang dieser wichtigen Neuorientierung.

Es gibt Überlegungen Krankenpflegerinnen und -pfleger auch verstärkt im niedergelassenen Bereich zuzulassen. Ist das ein wichtiger Weg?

Ja, das ist es. Und ich traue mich zu sagen, an dem führt nichts vorbei. Denn erstens besteht die Versorgungsnotwendigkeit und auf der anderen Seite hat die Berufsgruppe diese Option laut Ausbildung und Berufsgesetz ja auch. Man kann also den gehobenen Dienst in den Primärversorgungseinheiten oder Ordinationen einsetzen, die selbstständig tätig sind und ihre fachlichen Kompetenzen in den Behandlungsprozess einbringen.

Was hier noch fehlt ist die Struktur dahinter. Und diese werden wir vermehrt brauchen. Auch um für Pflegepersonen attraktiver zu sein. Dieser Gesundheitsberuf hat das Recht, nicht nur in unterschiedlichen Settings, sondern auch in der Freiberuflichkeit seine Leistungen anbieten zu können. Aktuell ist dieser Weg jedoch kaum möglich, da wesentliche Eckpunkte fehlen.

Das heißt, es könnte in Zukunft eigenständige Pflegeordinationen geben?

Das ist eine Option, die unbedingt in die Gänge kommen muss. Aber wir haben dafür eben bei den Krankenversicherungen noch kein Honorierungssystem. Prinzipiell sollte man Pflegeleistungen genauso über die Krankenkassa abrechnen können wie einen Arztbesuch. Der Österreichische Gesundheits- und Krankenpflegeverband setzt sich sehr dafür ein.

Eine weitere Idee ist mehr Autonomie bei verschreibungspflichtigen Medikamenten. Soll es auch das in Zukunft geben?

Genau das ist die Umsetzung der „Disease Management Programme“ , also zentral organisierter Behandlungsprogramme für chronisch kranke Menschen. Hier braucht es sicherlich eine Zusatzausbildung für die sogenannten „nurse practitioner“, für die wir in Österreich noch keine adäquate Bezeichnung haben. Diese können durch ihre Zusatzausbildung gemeinsam mit dem Arzt das Medikamentenregime regeln.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Möglichkeit der Verschreibung von Medizinprodukten, die notwendig sind, um den Pflegeprozess umzusetzen. Hier braucht man dringend eine Kompetenz zur Erstverordnung durch den gehobenen Dienst. Aktuell haben wir im Berufsgesetz zwar die Möglichkeit der Folgeverordnung, aber auch diese wird nicht umgesetzt, weil die Verordnungsscheine von der Kasse nicht anerkannt werden. Das betrifft zum Beispiel Inkontinenzprodukte, Verbandsstoffe oder Lagerungsbehelfe. Das ist aber ein ganz wichtiger Punkt für die kontinuierliche Versorgung in der Pflegepraxis!

Zusammenfassend könnte man sagen, dass wir in einer wichtigen Zeit der Umstrukturierung sind. Die Gesundheits- und Krankenpflege hat ihre Hausaufgaben gemacht, wir sind dabei, die Ausbildungsreform umzusetzen und die damit verbundenen Kompetenzen in der Praxis zur Verfügung zu stellen. Wir haben die Listung aller Personen, die in der Gesundheits- und Krankenpflege ausgebildet sind, im Gesundheitsberuferegister, welches durch einen Berufsausweis ersichtlich ist, ähnlich wie der Ärzteausweis. Jetzt müssen dringend die nächsten Schritte folgen, um die Reformen der Versorgungspraxis auch umsetzen zu können.

Interview: Heike Kossdorf, Bilder: www.depositphotos.de, Temes

Ursula Frohner,

Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes (ÖGKV)

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