„Um die Situation der Pflege nachhaltig zu verbessern, wird man noch an vielen Schrauben drehen müssen“
Zu wenig Nachwuchs, zu viele Berufsaussteiger: Die Situation der professionellen mobilen und stationären Pflege im Gesundheitswesen ist seit Jahren prekär. Im Gespräch mit INGO nimmt Barbara Klemensich, strategische Leiterin der Ausbildungsplattform und Vorsitzende des Pflegemanagementteams der Vinzenz Gruppe, Stellung zu möglichen Lösungsansätzen. Die angekündigten Pflegereform-Maßnahmen sieht sie erst als Anfang einer Herkulesaufgabe.
INGO: Über die Probleme der professionellen Pflege debattiert man schon lange und bis vor Kurzem sah es so aus, als ob es hier an mutigen Lösungen fehlt. Glauben Sie, dass das kürzlich von der Regierung verkündete Reformpaket die lang geforderte Veränderung bringen wird?
Barbara Klemensich: Keinesfalls. Ich würde sagen, es kommt endlich Bewegung ins Thema – das ist sehr erfreulich. Allerdings greifen die Ankündigungen viel zu kurz und ich bin gespannt, wie sie konkret umgesetzt werden. Die notwendigen 76.000 zusätzlichen Pflegekräfte bis 2030 wird es damit wohl nicht geben. Könnte es sein, dass man sich mit der Ankündigung, eine Milliarde Euro für die Pflegereform auszugeben, einfach zwei bis drei Jahre Luft verschaffen wollte?
Was wäre wirklich wichtig?
Es geht darum, endlich zu verstehen welche Motive es sind, warum jemand den Pflegeberuf ergreift. Aus der nahen Beziehung zu den gepflegten Menschen schöpft der Großteil der in der Pflege Tätigen eine hohe Berufszufriedenheit. Pflegende sind stolz darauf, einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, über ein breites Wissen und Können zu verfügen, hohe Verantwortung zu tragen und das Leben anderer maßgeblich zu unterstützen. Dem Gefühl, mit kleinen Dingen manchmal Großes bewirken zu können und für Menschen in Krisen oder am Ende des Lebens da zu sein, steht aber zunehmend das Gefühl von Bedeutungslosigkeit gegenüber. Die Erfahrungen von Pflegenden finden keine Resonanz. Stattdessen dominieren Ökonomisierungsbestrebungen und Dequalifizierungstendenzen die berufspolitischen Debatten.
Im Zeitalter des allgemeinen Fachkräftemangels wird man nur mit Argumenten wie einem sicheren Arbeitsplatz oder dem Einkommen nicht punkten können. Es braucht vor allem entscheidende Schritte, um intrinsisch motivierte Menschen langfristig zufriedenzustellen. Ausschließlich mehr Gehalt für jede Pflegekraft ist keine nachhaltige Lösung, denn das reicht nicht aus für eine langfristige Berufszufriedenheit.
"Ausschließlich mehr Gehalt für jede Pflegekraft ist keine nachhaltige Lösung, denn das reicht nicht aus für eine langfristige Berufszufriedenheit."
Wir verlieren immer noch deutlich zu viele wertvolle Pflegekräfte aus dem System, und das oft schon nach wenigen Berufsjahren. Die Forderung nach der Verbesserung der Arbeitsbedingungen sind meines Erachtens nicht abschließend beantwortet. Die angekündigten Maßnahmen, wie die Entlastungswoche, sind nur dann sinnvoll, wenn dafür mehr Personal eingesetzt wird. Andernfalls führt diese Errungenschaft zur weiteren Arbeitsverdichtung, was das Gegenteil von Entlastung ist.
Diese Überlastung durch zu wenig Gesundheitspersonal ist sicherlich eine permanente Frustration der Pflege in ihrem grundlegenden Werteverständnis, nämlich für die Menschen da zu sein.
Auf jeden Fall. Im Jahr 2020 hat die Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) Pflegende aller Qualifikationsstufen gefragt, warum sie sich für den Pflegeberuf entschieden haben. Das Hauptmotiv ist der Wunsch, Menschen zu helfen, sie zu umsorgen – eben „to care“ im wahrsten Sinne des Wortes. Natürlich sind Ökonomisierungsbestrebungen bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, schließlich verschlingt das Gesundheitswesen ungeheuer viel Geld. Wenn aber die Mitarbeitenden der Pflege einen Alltag erleben, der von zu wenig Personal und permanenten Zeitdruck geprägt ist, nimmt man ihnen ihr Hauptmotiv für ihre Berufswahl. Sehr schnell stellt sich für den Einzelnen die Frage nach dem Sinn. Umgekehrt legen die Patienten Wert darauf, dass Pflegende nicht nur fachkompetent sind, sondern auch über ethische Tugenden wie Vertrauenswürdigkeit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Mut und Offenheit verfügen. In einer Publikation aus dem Jahr 2017 hat es Derek Sellmann treffend formuliert: „Es geht darum, wer die Pflegenden sind – nicht nur darum, was sie tun.“ Ein Blick ins Ausland zeigt außerdem, dass ökonomisches Denken nicht zwangsläufig zu einer Situation wie unserer führen müsste. Gemeinsam mit Deutschland hat Österreich das höchste Patient-zu-Pflegekraft-Verhältnis in Europa. Demnach hat eine Pflegekraft hier die meisten Patientinnen und Patienten gleichzeitig zu versorgen. Es bleibt dabei einfach zu wenig Zeit, um diese nach den Werten der Profession zu pflegen.
Welche Rolle spielt die Ausbildung?
Im Zusammenhang mit der Ausbildung sind einige Verbesserungen gelungen. Zu erwähnen ist die bundesweite einheitliche Lösung der Ausbildungszuschüsse und die Ausweitung der Ausbildungskapazitäten. Ganz vergessen wird jedoch, dass die Pflegeausbildung in dualer Form abläuft. Mit keinem Wort werden Verbesserungen für die praktische Ausbildung erwähnt. Es gibt Befragungsergebnisse, die darauf hinweisen, dass sich schon jetzt ein Drittel der Studierenden beziehungsweise Auszubildenden nicht ausreichend gut auf das Berufsleben vorbereitet fühlt. Auch für die praktische Ausbildung muss ausreichend Zeit zur Verfügung stehen, in der hochqualitativ und ernsthaft ausgebildet und auf die Herausforderungen der Arbeitswelt vorbereitet wird.
"Die Einführung der Pflegelehre halte ich für eine absolut kurzsichtige Entscheidung."
Die Einführung der Pflegelehre halte ich für eine absolut kurzsichtige Entscheidung. Es gibt unzählige freie Lehrstellen in allen möglichen Berufsausbildungen. Warum sollte das in der Pflegeausbildung anders sein? Die Zahlen der Statistik Austria belegen, dass man es in einigen Bundesländern verabsäumt hat, die Ausbildungskapazitäten für alle Qualifikationsstufen der Pflege auszubauen, um sich auf den Mehrbedarf an Pflegekräften vorzubereiten. Ganz zu schweigen von der seit vielen Jahren geforderten Attraktivierung des Berufs, die für eine vielversprechende Bewerberlage Grundvoraussetzung ist. Warum eine Erweiterung der jetzt schon sehr heterogenen Ausbildungslandschaft durch die Pflegelehre das Problem lösen soll, erschließt sich mir nicht.
Würden mehr Möglichkeiten für Pflegefachkarrieren den Beruf attraktivieren?
Ja, Pflegefachkarrieren zu stärken würde nicht nur eine bessere und zeitgemäßere Patientenversorgung und eine spürbare Entlastung des Gesundheitssystems bringen, sondern auch einen wesentlichen Anreiz für die Berufsgruppe selbst darstellen. Ein neuer klassischer Pflegeberuf auf Topniveau wäre die Advanced Practice Nurse. Dafür ist ein DGKP-Diplom auf Bachelorniveau und ein anschließendes Masterstudium in Advanced Nursing Practice Voraussetzung. Das sind Spitzenkräfte, die auch für die Bevölkerung direkt wirksam werden, Steuerungsaufgaben übernehmen und beispielsweise Disease-Management-Programme leiten oder als School Nurse, Pain Nurse oder Community Health Nurse arbeiten können. Ein absolut zukunftweisendes Berufsbild mit interessanter Perspektive, um sich intramural und extramural gut zu positionieren. Man müsste es nur vorantreiben, sprich intensiver unterstützen und finanzieren. Aus meiner Sicht sind Spitzenmedizin und hochqualifizierte Pflege kein Widerspruch, sondern ergänzen einander hervorragend. Es geht um Exzellenz in der Pflege und mehr Fokus auf die multiprofessionelle Kompetenz in der Spitzenmedizin. Entscheidend für den Berufsstolz ist sowohl die gesellschaftlich geteilte als auch die selbst erlebte Sinnkomponente.
Erhöhen Advanced Practice Nurses nicht auch die Sichtbarkeit der Pflege?
Ja genau. Pflegepersonen müssen ihre Kompetenzen entfalten können und als das eingesetzt werden, was sie sind, nämlich Expertinnen und Experten auf ihrem Gebiet. Ihre Leistung ist von hohem individuellem und gesellschaftlichem Wert. Fakten zu schaffen und der Pflege mehr Verantwortung zuzugestehen beziehungsweise ihr Berufsprofil internationalen Standards anzupassen, würde die Situation der Pflege erheblich verbessern und sie zudem sichtbarer machen. Die Bundesregierung hat eine Kompetenzerweiterung der Pflegefachassistenten und Pflegeassistenten im Zusammenhang mit Infusionen und Injektionen angekündigt. Diese Tätigkeiten werden anders, als es der Bundesminister in der Pressekonferenz zum neuen Maßnahmenpaket dargestellt hat, seit vielen Jahren durch den gehobenen Dienst für Gesundheits- und Krankenpflegeperson durchgeführt und sind daher keine ärztlichen Vorbehaltsleistungen mehr. Es ist sicher sinnvoll, die Bestimmungen des aktuellen Berufsgesetzes für diese Qualifikationsstufen nachzuschärfen. Aus diesem Grund wäre es nur recht und billig gewesen, diese Entscheidung im Rahmen der laufenden Gesetzesevaluierung zu treffen und nicht über diese risikogeneigten Tätigkeiten politisch motiviert zu entscheiden. Die Kompetenzerweiterung der diplomierten Gesundheit- und Krankenpflege wurde mit keinem Wort erwähnt. Diese Stärkung hätte einen wesentlichen Einfluss auf ein Gesundheitswesen, wie es in anderen Ländern schon seit vielen Jahren üblich ist. Die Menschen niederschwellig zu erreichen, ihnen mehr Gesundheitskompetenz zu vermitteln und ihnen damit zu mehr gesunden Jahren zu verhelfen – das wäre gesundheitspolitischer Weitblick bei gleichzeitig sinkenden Kosten.
Was erwarten Sie sich jetzt, nach Verkündigung des Maßnahmenpakets, von der Politik?
Die Schwerpunkte Ausbildung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen sind richtig gewählt. Aber die Sicherstellung von Mitteln für die Attraktivierung der Berufsfelder sind noch gar nicht thematisiert worden. Damit ist der schon angesprochene Ausbau der Pflegefachkarrieren gemeint. Pflegefachkräfte mit Entwicklungs- und Gestaltungswillen möchten eine berufliche Perspektive, zugleich braucht die Gesellschaft ihr Know-how. In Österreich geben wir 98 Prozent des Gesundheitsbudgets für kurative und nur zwei Prozent für präventive Versorgung aus. Der gehobene Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege kann in puncto Prävention einen bedeutenden Beitrag leisten. Es geht ja um gesündere Menschen, nicht nur um ältere. Gute Pflegequalität ist nicht mit wenig oder schlecht Qualifizierten möglich. Folglich muss die Politik mutige Pflegekonzepte umsetzen.
Aber nicht nur die Pflege, sondern das ganze Gesundheitswesen muss nachhaltig und zukunftsfähig gestaltet werden. Dabei gilt es an vielen Schrauben zu drehen. Dazu gehört auch, dass generell zwischen der professionellen Pflege und der Betreuung durch Laien unterschieden wird. Die synonyme Verwendung von Pflege bei beiden Aufgaben macht die Differenzierung schwierig. Das ist verwirrend. Die angekündigten Maßnahmen der Bundesregierung für Betroffene und deren Angehörige sind als Übergangslösung sehr zu begrüßen, allerdings sind Versorgungsmodelle sicherzustellen, wenn professionelle Pflege notwendig wird bzw. die Angehörigen die Betreuung nicht mehr leisten können. Ein Anreizsystem, das sich darauf verlässt, dass die Versorgung betagter Menschen prinzipiell durch die Familien erfolgt, ist nicht zeitgemäß.
Interview: Uschi Sorz; Fotos: Digitales Handwerk, depositphotos.com

Barbara Klemensich, MBA
Strategische Leiterin der Ausbildungsplattform und Vorsitzende des Pflegemanagementteams der Vinzenz Gruppe
Klemensich hatte ab 1993 unterschiedliche Führungspositionen im Wiener Gesundheitsverbund inne, 2010 wechselte sie in die Vinzenz Gruppe. Sie war dort Pflegedirektorin im Orthopädischen Spital Speising und viele Jahre in der Lehre tätig. Seit 2020 ist sie Vorsitzende des Pflegemanagementteams und strategische Leiterin der der Ausbildungsplattform der Vinzenz Gruppe.