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Gesundheit
Österreich
14.05.2024

„Der ganzheitliche Ansatz der Geriatrie sollte Vorbild für die gesamte Medizin sein“

Die zunehmende Ökonomisierung verdrängt die Menschlichkeit aus der Medizin, sagt der Internist, Philosoph und Professor für Medizinethik Giovanni Maio, der an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg lehrt. Vulnerablen Patient*innengruppen wie älteren Menschen könne man dadurch oft nicht das Ausmaß an Versorgung zukommen lassen, das ihnen zustünde und das sie bräuchten. Wie altersgerechte medizinische Versorgung unter ethischen Gesichtspunkten aussieht und warum er ein Verfechter der Beziehungsmedizin ist, erklärte Maio im Gespräch mit INGO.

INGO: Herr Professor Maio, ist unser modernes Medizinsystem zu wenig mitmenschlich für alte Menschen? 

Giovanni Maio: Aus meiner Sicht ist das moderne Gesundheitssystem so aufgebaut, als würde es um eine industrielle Abfertigung gehen. Die Menschen werden da schnellstmöglich durchgeschleust. Den Ärzt*innen bleibt kaum Zeit, um auf die Besonderheiten der Patient*innen einzugehen, ihnen aufmerksam zuzuhören. Daher fühlen sich diese, wenn sie in Kliniken oder Ordinationen kommen, nicht wirklich gesehen. Und gerade der alte Mensch hat meist mehrdimensionale Probleme aufgrund von Multimorbidität und häufig auch einer sozial prekären Situation. Ohne ein Gespräch, das diesen Namen auch verdient, kann man keine guten Lösungen für so vielschichtige Probleme finden. 
 

Was steht dem im Wege? 

Maio: Im Wege stehen eine mechanistische Auffassung von Medizin und die fehlende Einsicht, dass Medizin auch eine zwischenmenschliche soziale Praxis ist, kein reiner Reparaturbetrieb. Natürlich hat sie die Aufgabe zu intervenieren und Vorkehrungen für eine Besserung zu treffen, aber wie die individuell beste Vorgehensweise aussieht, ergibt sich erst aus dem Gespräch. Dazu muss man zuhören können. Nur dort, wo tatsächlich eine Beziehung entsteht, kann man herausfinden, wie man dem anderen helfen kann. Ärzt*innen werden heute zu sehr auf die Reparaturfunktion reduziert. Es besteht vielfach die Vorstellung, dass sie so etwas wie Ingenieur*innen für den Menschen sind. Diese wiederum betrachtet man als Organismus, den man nur richtig manipulieren muss, und dann ist alles gut.
  

Aber ist die Reparatur – im Sinne von Heilung – nicht etwas Erwünschtes?

Maio: Zunächst einmal sollte man reflektieren, was Hilfe bedeuten kann. Gerade wenn es um alte Menschen geht, ist die Medizin konfrontiert mit chronischen Krankheiten, auch mit unheilbaren Krankheiten. Oft muss man als Arzt betreuen, begleiten, anleiten, Ängste nehmen. Und selbst bei einer Erkrankung, die man heilen kann, bedeutet die Konfrontation mit ihr zuerst einmal eine Krisensituation. Da kann man nicht einfach nur sagen, wir reparieren. Da gilt es zu trösten, zu beruhigen, zu erklären. Und bei einem alten Menschen ist es eben so, dass wir hier nicht nur gegen die Krankheit kämpfen können, sondern wir müssen ihm oder ihr zugleich dabei helfen, mit dieser bestmöglich umzugehen. Das ist der große Unterschied. Heilung rein im Sinne der Reparatur würde bedeuten, man geht durch das Gesundheitssystem durch und dann ist die Krankheit weg. Beim alten Menschen sind die zu bewältigenden Probleme vielschichtiger.
 

Sie haben den großen Zeitdruck angesprochen, unter dem das Gesundheitspersonal heutzutage steht. Kann unser Gesundheitssystem so eine umfassende gesprächsbasierte Versorgung überhaupt leisten?

Maio: So, wie unser modernes Gesundheitssystem im Augenblick beschaffen ist, kann es der zwischenmenschlichen Beziehung den angemessenen Platz in der Medizin nicht einräumen. Es hat so viele Probleme und Unzulänglichkeiten, weil es Fehlanreize setzt – allen voran den allgegenwärtigen Einspardruck. Dadurch ist man veranlasst, so viele Patient*innen wie möglich zu behandeln, um Einnahmen zu erzielen, und gleichzeitig so wenig wie möglich auszugeben. Dies impliziert eine Arbeitsverdichtung, die wiederum zu einer Verknappung der Zeit führt. Von dieser Warte aus erlebt man jene, die besonders versorgungs- und pflegebedürftig sind, natürlich hauptsächlich als Belastung. Wenn alles darauf ausgerichtet ist, die Menschen so schnell wie möglich durchzuschleusen, dann werden die, die viele Erkrankungen haben, sowie jene, die chronisch oder unheilbar krank sind, automatisch an den Rand gedrängt. Für diese Gruppen wird es immer schwerer, adäquat versorgt zu werden, weil sie für das System zu teuer, zu kompliziert oder zu aufwändig sind. Nur: So kann Medizin nicht funktionieren. Deren zentrale Aufgabe ist es ja gerade, für die besonders Schwachen und Bedürftigen da zu sein. Ist sie gezwungen, die, die sie am meisten benötigen, zur Seite zu schieben, kann sie ihren Auftrag nicht zufriedenstellend erfüllen.
 

Den Zeitdruck fördern auch demografisch bedingte Personalengpässe. Fallen diese ebenfalls in dieses Geflecht an Ursachen? 

Maio: Natürlich. Die Personalengpässe sind allerdings nur teilweise demografisch bedingt, keineswegs ausschließlich. Es gibt hier ebenso einen Zusammenhang mit der Durchökonomisierung der Medizin. Diese verschlechtert die Arbeitsbedingungen für das Gesundheitspersonal derart, dass viele einfach aussteigen. Immer mehr Pflegende zum Beispiel gehen weg, weil sie ursprünglich für eine ganz andere Form von Pflege eingetreten sind und in der Tätigkeit in einer industrieähnlichen Medizin keinen Sinn sehen. Mit den Ärzt*innen wird uns das genauso passieren. Es wird schwerer werden, Menschen für diesen Beruf zu gewinnen, wenn man die Medizin rein als Durchschleusungsdisziplin betreibt, bei der es – auf Kosten der Menschlichkeit – nur um Effizienzsteigerung geht. Da werden viele sagen, das tu ich mir nicht an. 
 

Wie optimistisch oder pessimistisch sind Sie, dass man dem etwas entgegensetzen kann? 

Maio: Ich bin durchaus optimistisch, denn ich treffe im Hörsaal auf Studierende, die eine menschliche Medizin wollen. In diesen jungen Menschen, die prosozial eigestellt sind, sehe ich ein großes Potenzial. Auf Dauer werden sie eine durchökonomisierte Medizin mit all ihren Nachteilen nicht akzeptieren. Das Medizinsystem wird sich ändern müssen. Sonst werden wir in Zukunft einen derartigen Ärzt*innenmangel haben, dass die Politik gezwungen sein wird, umzudenken. 
 

Sie sind ein Verfechter der Beziehungsmedizin. Was ist darunter zu verstehen?

Maio: Unter Beziehungsmedizin verstehe ich eine Medizin, bei der es primär darum geht, das Problem des Patienten oder der Patientin zu verstehen, um dann gemeinsam zu einer Lösung zu kommen. Das bedeutet, dass man nicht nur vom Befund ausgeht, sondern auch die Belange und Befindlichkeiten des Individuums in den Mittelpunkt rückt. Was macht das Kranksein mit diesem Menschen? Was braucht er oder sie wirklich? Ich bin fest davon überzeugt, dass wir nur dann wirklich helfen können, wenn wir Medizin als verständigungsorientierte Praxis verstehen, bei der man eben sprechen muss. Eine Medizin, die nicht spricht, lässt die Patient*innen mit den krankheitsbedingten Einschränkungen alleine. Tragischerweise resignieren diese dann eher und geben sich auf. Eine beziehungsorientierte Medizin hingegen kann auch Hoffnung geben und den Menschen Möglichkeiten eröffnen, um trotz Einschränkungen ein gutes Leben zu führen. Dafür muss man sich Zeit nehmen. 
 

Wird dieser Beziehungsaspekt im Medizinstudium zu wenig vermittelt?

Maio: Medizinstudierenden wird schwerpunktmäßig beigebracht, was man bei welchem Befund zu tun hat, und das ist ja auch wichtig. Nur wird verkannt, dass jeder Patient, jede Patientin ein Individuum ist, das nicht in eine Schablone gepresst werden kann. In meinen Augen ist es aber die Aufgabe der Medizin, die Unverwechselbarkeit einer Person zu erkennen und die individuell beste Lösung für sie zu finden. In diesem Sinne sind heutige Ausbildungen relativ einseitig und fördern eher das Schablonendenken.
 

Was bedeutet das in Hinblick auf den alten Menschen?

Maio: Hier sind Pauschallösungen besonders unpassend, denn alte Menschen sind sehr komplex. Den alten Menschen gibt es gar nicht, es gibt nur die Vielfalt der Grundsituation, in der er oder sie sich befindet. Dabei spielen viele Aspekte zusammen, nicht nur körperliche, sondern auch seelische und soziale. Es geht darum, diese Komplexität anzuerkennen und eine Antwort auf die Vielschichtigkeit der Probleme zu finden, mit denen die jeweilige Person konfrontiert ist. Hat diese mit Behinderungen oder Einschränkungen zu kämpfen, muss man sich auch darum kümmern, dass sie nicht aus ihrem sozialen Gefüge herausfällt. Eine Diagnose wie etwa Demenz verändert alle sozialen Beziehungen. Umso mehr muss man in Gespräche investieren, um den Angehörigen zu verdeutlichen, dass das nicht das Ende des guten Lebens sein muss. Denn es kommt sehr stark darauf an, wie man dann mit der betroffenen Person umgeht. 


Hat die Geriatrie einen ganzheitlicheren Ansatz als andere Fächer? 

Maio: Auf jeden Fall. Die Geriatrie finde ich in dieser Hinsicht vorbildlich. Durch den täglichen Umgang mit ihrer besonders vulnerablen und komplexen Patient*innengruppe gehört es einfach zu ihrem Selbstverständnis, den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen. Anders funktioniert sie ja auch nicht. Das Schöne an der Geriatrie ist: Geriater*innen betrachten grundsätzlich das große Ganze, sprechen mit den Angehörigen, interessieren sich für das Leben ihrer Patient*innen. Sie versuchen sie auch dabei zu unterstützen, sich selbst besser zu helfen. Was können diese tun, um nicht zu stürzen oder dass sich ihre Krankheit nicht verschlechtert? Von ihrer Denkweise her ist die Geriatrie eine vorausschauende Disziplin, die genau weiß: Wenn dieser Mensch so weitermacht wie bisher, wird es Probleme geben. Ihre Strategie dagegen ist frühzeitige Prävention. 

All das sind Faktoren, die die Geriatrie zu einem guten Vorbild für die gesamte Medizin machen. Unser Medizinsystem ist so stark fragmentiert, wir haben viele Spezialdisziplinen, die sich auf ihren Ausschnitt des Körpers fokussieren und eher wenig miteinander kommunizieren. Die Geriatrie hingegen ist auf einen Gesamtüberblick angewiesen. Aus Sicht der Ethik hat die Geriatrie Modellcharakter. 
 

Was ist für eine altersgerechte medizinische Versorgung besonders wichtig?

Maio: Ich halte es für eine zentrale Aufgabe der Geriatrie, die alten Menschen wieder in die Mitte der Gesellschaft zu rücken. Dass sie bewusst darauf achtet, dass diese nicht vergessen und an den Rand gedrängt werden. Für diese Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilhabe braucht die Geriatrie aber auch die entsprechenden Rahmenbedingungen. 

Interview: Uschi Sorz, Foto: Silke Wernet

Giovanni Maio, Dr., Prof., M.A. phil.

Mediziner, Philosoph und Universitätsprofessor für Medizinethik

Maio hat den Lehrstuhl für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (Deutschland) inne und leitet dort ein eigenes Institut. Er ist sowohl Philosoph als auch Internist mit langjähriger klinischer Erfahrung sowie habilitierter Medizinethiker. 2002 wurde er durch die deutsche Bundesregierung in die Zentrale Ethikkommission für Stammzellenforschung berufen. Er ist Direktoriumsmitglied des Interdisziplinären Ethik-Zentrums Freiburg und Mitglied des Ausschusses für ethische und juristische Grundsatzfragen der Bundesärztekammer. Maio ist Autor vieler Publikationen zur Philosophie der Medizin.

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